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Günter Schießl ist tot

À la Recherche

Ein Nachruf auf Günter Schießl, den letzten großen Journalisten Regensburgs.

Ein Journalist, dem es nicht um sich selbst geht? Und dann noch einer, der für etwas kämpft? Ja, so etwas gab es einmal. Sogar in Regensburg.

Von Paul Casimir Marcinkus

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Die Regensburger und das Fahrrad! Eine ganz schön alte Geschichte! Das glaubt man ja nicht! 150 Jahre ist das schon her, damals ging das schon los! Voll der Hammer, was? Und bereits damals waren die Radfahrer eine Gefahr für alle übrigen Verkehrsteilnehmer! Sodass das Radfahren in der Innenstadt 1879 für ein paar Jahre verboten werden musste! (Glückliche Zeiten damals!)

So könnte man einen Artikel in der Mittelbayerischen vom 4. Oktober 2019 zusammenfassen, der einen Aufsatz in einer historischen Zeitschrift ausschlachtet: „So lernte Regensburg radeln“. Unter den „Regensburger Radpionieren“ wird ein paarmal ein gewisser Simon Oberndorfer genannt, auch ein Foto von ihm ist abgedruckt; es stammt von 1893 und zeigt einen Zwanzigjährigen, der mit ordenübersäter Brust stolz mit seinem Fahrrad posiert. Weiter heißt es im Text der MZ: „Außerdem war Oberndorfer Fahrradhändler und ein preisgekrönter Kunstradfahrer.“ Naja! Da gibt es noch was anzufügen! Dieses hier: Außerdem hieß Oberndorfer nicht Oberndorfer, sondern Oberdorfer, Simon Oberdorfer. Und außerdem wurde dieser Simon Oberdorfer die letzten zehn Jahre seines Lebens vom deutschen Staat gejagt, rund um den Erdball gejagt, und schließlich zur Strecke gebracht und ermordet.

Ja klar, wer interessiert sich schon für solche nebensächlichen Details. In Regensburg. Aber halt. Einer hat sich doch dafür interessiert. Da gab es mal jemand, Günter Schießl hat der geheißen. Der hat diese nebensächlichen Details überhaupt erst ausgegraben. Damit sie dann anschließend wieder konsequent ignoriert werden konnten, zumindest von der MZ.

Aber mal von Anfang an: Den Namen Simon Oberdorfer kannte in Regensburg von 1890 bis in die 1930er jedes kleine Kind. Und dann ab 1938 ganz abrupt niemand mehr. Weil die Stadt nämlich ganz plötzlich draufgekommen war, dass dieser Simon Oberdorfer, bis dahin ehrengeachteter Unternehmer und Vereinsvorstand, ein Jude war und somit für vogelfrei zu erklären. Man verschleppte den Mann am 11. November 1938 ins KZ Dachau, ließ ihn eine gute Woche später wieder laufen, und als seine Flucht mit dem Dampfer St. Louis von Hamburg nach Kuba 1939 scheiterte, weil sich Kuba und auch die USA weigerten, die 937 jüdischen Flüchtlinge an Land zu lassen, landete Simon Oberdorfer doch wieder in Europa, in Holland, und ging den Deutschen doch noch in die Fänge. Am 30. April 1943 wurden Simon Oberdorfer, seine Frau Hedwig und sein Schwager Julius Springer in dem Vernichtungslager Sobibor ermordet.

Erst jetzt, achtzig Jahre nach der Irrfahrt der St. Louis (für Goebbels natürlich ein Geschenk des Himmels: Seht her! Nicht nur wir Deutschen wollen die Juden nicht, auch sonst will sie niemand auf der Welt haben!) wurde eine breitere Öffentlichkeit mit der Sache bekannt gemacht, durch das Dokudrama „Die Ungewollten“, das die ARD im Oktober zur Primetime sendete: Ulrich Noethen als St.Louis-Kapitän Gustav Schröder, der verzweifelt für seine Passagiere kämpft.

Vor dreißig Jahren aber war der Regensburger „Woche“-Redakteur Günter Schießl allein auf weiter Flur. Ganz auf eigene Faust recherchierte er jahrelang und fand nach und nach das Schicksal von Simon Oberdorfer heraus, von dem in Regensburg niemand etwas wusste. 1990 erschien Schießls 91 Seiten umfassende Broschüre „Simon Oberdorfers Velodrom – Auf den Spuren eines Regensburger Bürgers“. Denn Simon Oberdorfer hatte 1898 das Velodrom hinterm Arnulfsplatz erbaut, das Anfang der 1990er vom Stadtrat zum Abriss freigegeben wurde. Kein Mensch interessierte sich für den in jeder Hinsicht bemerkenswerten Bau (in den 1920ern Varieté, von 1929 bis 1975 Kino), und ohne Schießls beharrliche Recherche würde er mit Sicherheit nicht mehr stehen.

Und dieser Günter Schießl ist also nun mit 79 Jahren gestorben. Langer Anlauf für einen Nachruf? Themaverfehlung? Nein. Jeder, der Günter Schießl gekannt hat, weiß: Genau so hätte er sich seinen Nachruf gewünscht. Weil das Velodrom der journalistische Coup seines Lebens war. Und weil er immer hinter die Sache, für die er kämpfte, zurücktrat. Was eine doppelte Unmöglichkeit zu sein scheint: ein Journalist, dem es nicht um sich selbst geht? Und dann noch einer, der für etwas kämpft? Ja, so etwas gab es einmal. Sogar in Regensburg.

Von alledem ist in dem Nachruf, den Harald Raab auf seinen jahrzehntelangen Kollegen für die MZ schrieb, so gut wie nichts zu lesen. Zumindest in der gedruckten Ausgabe. Da wurde Raabs (ursprünglich ausführlicher) Nachruf derart zusammengekürzt, dass einem als wichtigstes die Schlagzeile „Chopper enttarnt“ ins Auge springt. Unter den 1.001 superpeinlichen Regensburger Provinzpossen ist das die allerpeinlichste und allerdoofste. Eine Zahnarzthelferin betätigte sich 1981/82 als Bauchrednerin und inszenierte in ihrer Praxis damit einen Spuk. Ganz Deutschland fuhr darauf ab; und auch Günter Schießl schrieb über das Schmierentheater. Die „Chopper“-Story, Schießls bleibendes journalistisches Glanzstück? Günter Schießl würde nur die Augen verdrehen.

Mit diesem „Chopper“-Klischee bekommt man einen ganz falschen Eindruck von der „Woche“, der Regensburger Boulevardzeitung, die von 1968 bis 1999 erschien und für die Günter Schießl arbeitete (bevor er dann noch ein paar Jahre für die MZ schrieb). Natürlich lockte die „Woche“ mit Sex and Crime; eine gehörige Portion Sensationsjournalismus war Pflicht. Gleichzeitig war die „Woche“ – Harald Raab sollte es wissen, er war genausolang dabei – ein aufklärerisches, liberales Kampfblatt, oft genug die einzige Stimme im dumpfkatholischen Kleinstadtsumpf, die die Fahne der Wahrheit, der Vernunft und des Anstands hochhielt.

Freundlicherweise erwähnt Harald Raab in seinem Schießl-Nachruf das Buch „Kriegsende in Regensburg – Revision einer Legende“, das Schießl 2012 zusammen mit Peter Eiser vorlegte. Nur was erfährt man in der zusammengestrichenen Druckversion darüber? Nichts. Dabei hat dieses Buch nur mal eben mit dem Dauermärchen aufgeräumt, die Hitlerwehrmacht in Gestalt eines Majors namens Robert Bürger habe die Stadt Regensburg im April 1945 vor der Zerstörung durch die Amerikaner bewahrt.

Ein tapfrer, edler Wehrmachtsmajor gegen die vielbösen Amis – Nachtigall, ick hör dir trapsen! Allein in Regensburg ließ man sich solchen Schmäh jahrzehntelang an die Nase schmieren. Beziehungsweise lässt man sich das heute noch. Denn die akribisch recherchierte „Revision einer Legende“, die Schießl und Eiser 2012 präsentierten, ist bis heute nicht richtig angekommen. Beredt wird sie beschwiegen. In der MZ erhielt sie eine nichtssagende Anstandsbesprechung. Und jetzt, wo Harald Raab wenigstens ein paar Sätze zu dem brisanten Buch fallen lässt, erfährt man in der gedruckten MZ: nichts.

Gleich gar nicht erwähnt wird das Buch „Sündenfall an der Donau“, das Günter Schießl ebenfalls zusammen mit Peter Eiser den bornierten Regensburgern um die Ohren haute. Wer dieses 2004 erschienene, nur gut hundert Seiten umfassende Buch (Untertitel: „Die Regensburger Ostnerwacht zwischen Kolpinghaus und Ostentor“, edition buntehunde) nicht in der Hand hatte, hat von Regensburg keine Ahnung. Zwischen Kolpinghaus und Eiserner Brücke wurden bis 1966 mehr als 40 Gebäude von der Stadt aufgekauft und abgerissen, der Hunnen- und der Georgenplatz sind dadurch ausradiert worden. Grund: die „Bayerwaldbrücke“ (vom Donaumarkt nach Stadtamhof), eine sechsspurige Phantasmagorie, die dann gottlob doch nicht gebaut wurde.

Eine unbekannte Zahl von Regensburgern (mindestens 1.000 Personen) wurde von dieser Brechstangenpolitik aus der Ostnerwacht zwangsweise ausquartiert. Profitiert davon hat am Ende das Museum der bayerischen Geschichte, das sich jetzt mit seinem fetten Arsch genau in diese (Donaumarkt-)„Baulücke“ hineingepflanzt hat (man musste dazu nur noch e i n großes Wohngebäude abreißen: Hunnenplatz 5).

Dito bei Raab unerwähnt bleiben die vielen „Ortstermine“, die Günter Schießl um die Jahrtausendwende zusammen mit anderen (z.B. mit dem Literaturwissenschaftler Hans Dieter Schäfer) veranstaltete: Lesungen in teils leerstehenden Privatwohnungen, mit denen an verschwundene/ermordete Regensburger erinnert wurde. Die Häuser, die bei den Denkmalschützern oft ein Eigenleben entwickeln, waren für Schießl immer mit ihren einstigen Bewohnern verknüpft. Den Gedanken hat er ohne großen Bohei sein ganzes Leben lang verfolgt. So unbeirrbar, dass man nicht umhin konnte, ihm 1985 die Bayerische Denkmalschutzmedaille und den Deutschen Preis für Denkmalschutz und 1993 den Kulturförderpreis der Stadt Regensburg zu verleihen. So ganz nebenbei initiierte Schießl auch noch so schöne Sachen wie das Villapark-Festival und den „Woche“-Musikwettbewerb. Aber apropos schöne Sachen.

Hilfe, mein Haus ist ein Denkmal? Günter Schießl bewohnte mit seiner Frau Elfriede einen unauffälligen mittelalterlichen Wohnturm in der Wahlenstraße, und das machte ihm sichtlich Spaß. Unten betrieb Elfriede Schießl einen Laden, was heißt e i n e n Laden – es war der schönste der Stadt. „Schöne Sachen“ stand auf dem Ladenschild, und genauso bescheiden demonstrierte dieser winzige Laden durch seine sorgfältige Ausstattung genauso wie durch seine ausgesuchten Waren all den aufwendig aufgemotzten Schreihalsboutiquen, was schlichte Schönheit ist und hinreißende Eleganz. Die einen reden von früh bis spät von gutem Geschmack. Die andern haben ihn. Ende Juli 2019, vier Monate vor dem Tod ihres Mannes, hat Elfriede Schießl ihren Laden nach 44 Jahren zugesperrt. Eine Ära ist zu Ende.

Günter Schießl war ein grundgütiger Mensch, der sich nie in den Vordergrund spielte. Allein dadurch stach er aus der Regensburger Journalistenmeute heraus. Seine journalistische Bilanz ist bestechend, seine Leistung für die Stadt Regensburg wird wohl erst künftigen Generationen richtig bewusst werden. Er ruhe in Frieden. Er lebe hoch!

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Kommentare (16)

  • Giesinger

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    Ich kenne “Die Woche” noch aus meiner Kindheit und Jugend.
    Mein Vater hat sie (neben anderen Zeitungen) immer gekauft.
    Er nannte sie zwar “Revolverblatt”, war aber wohl auch immer interessiert daran.

    Möglicherweise schlagen irgendwelche Gene doch noch durch.
    Jetzt lese ich Nicht(mehr)-Regensburger regensburg-digital, obwohl ich doch (z.B. laut Mr.T.) gar nicht zur “linksgrün-versifften Leserschaft” passe?

    Mein Beileid an die Witwe.
    Gehen müssen wir alle, der Tod gehört zum Leben…

  • Empörer007

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    zur “Woche”:
    sehr, sehr gut beschrieben, der G. Schießl war halt kein “Krawalljournalist”, er passte dann, nach der “Zerschlagung” der Woche durch die “Amme” den MZ-Verlag, nicht mehr in die politische Presse-Landschaft mit der “Mittelmäßigen” als Flagschiff…,
    die Woche-Auflage sank dramatisch…, alle Rettungsversuche (u. gescheiterte Wiedergeburt) waren vergebens. Ich habe sie seit 1973 fast jeden Donnerstag gelesen, ab 17 Uhr bot sie der fliegene Zeitungsverkäufer von Kneipe zu Kneipe mit seinem Moped unterwegs, zum Preis 1,00 DM an…, schöne Zeiten, die nicht mehr wiederkommen, heute haben wir ein “Schundangebot” an (kostenlosen) Zeitschriftchen, die sich brüsten, die Regensburger aufklären zu müssen…
    Ich erinnere mich, es gab da mal einen “Jungspund J. W.”, der sich anmasste, mit einem bedauerlichen Magazin (Fürst?”), die Szene aufzumischen…, und grandios scheiterte…
    Wie diese Geschichte ausging, bitte nachlesen, in 2019 steht dieser Herr als Angeklagter vorm LG Regensburg…

  • Queen of Suburbia

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    Ein Skandal sind nicht die Fehler, die Herrn Raab bei seinem Nachruf auf Günter Schießl vielleicht unterlaufen sind (und die in der Online-Ausgabe der MZ korrigiert wurden), sondern das Gebaren eines Paul Casimir Marcinkus, der den Tod eines verdienten Journalisten als Vorwand nutzt, um sich auf billigste Art und Weise „profilieren“ zu wollen.

    Über den gesamten Text hinweg wird deutlich, dass es nur vorgeblich um das Leben und die Verdienste Günter Schießls geht. Das erschließt sich u.a. aus dem Umstand, dass jeder im Artikel erwähnte Aspekt aus den Leben Schießls und Oberdorfers allein dazu genutzt wird, die MZ/Herrn Raab zu diskreditieren. Leben Sie Ihre Animositäten gegenüber der MZ bitte anderweitig aus und lassen Sie dabei gefälligst Günter Schießl aus dem Spiel. Dieser Artikel ist kein Nachruf, sondern eine Sauerei. Ein Missbrauch des Andenkens an einen Verstorbenen.

    Herr Marcinkus, oder wie immer Sie heißen mögen: Sie sind noch jung. Suchen Sie sich einen Job, bei dem Sie nicht schreiben müssen. Sie können es nicht. Ihnen fehlt jegliches Talent und Gespür für Menschen, Situationen und Stil. Lassen Sie es einfach bleiben.

  • Peter Kern

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    Queen of Suburbia, vielen Dank für deine Einschätzung dieses Artikels, den ich mit Schaudern gelesen habe. Er wird Günther Schießl wirklich nicht gerecht, weder inhaltlich noch sprachlich.
    So einen Nachruf sollten Weggefährten schreiben, keine Crash-Test Tschornalisten.

  • Altstadtkönig

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    Ich lese in dem Nachruf auf Günter Schießl etwas anderes als “Queen of suburbia”. Paul Casimir Marcinkus schreibt nicht, dass Harald Raab in seinem Nachruf auf Schießl in der MZ “Fehler unterlaufen” seien, die dann “in der Online-Ausgabe der MZ korrigiert” worden seien. Marcinkus behauptet vielmehr, dass Raabs Nachruf auf Schießl dessen Lebensleistung nicht gerecht werde. Und zwar in der Online-Version (die ja immer zuerst erscheint). Diese Version von Raabs Nachruf auf Schießl, die Marcinkus schon sehr mau findet, sei dann tags darauf in der Print-Version auch noch stark gekürzt und dadurch noch einmal verschlechtert worden. Wofür Marcinkus Raab nicht verantwortlich macht, doch die Lebensleistung Schießls sei somit in der Printausgabe kaum mehr erkennbar gewesen. Was Marcinkus schreibt, hat also mit dem Geschimpfe von “Queen of suburbia” nichts zu tun. Marcinkus kann nicht schreiben? Die selbsternannte Queen kann nicht lesen!

  • Rigobert Rieger

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    Nachdem ich den Nachruf von Herrn Marcinkus auf Günter Schießl gelesen hatte, fiel mir auf einmal einer der von Marcinkus genannten “Ortstermine” ein, die Schießl zusammen mit anderen veranstaltete. Das war 1995, in einem normalerweise nicht zugänglichen Bier- oder Eiskeller des Spitalkellers in der Alten Nürnbergerstraße in Stadtamhof. Schießl hatte es irgendwie geschafft, den über achtzigjährigen Wehrmachtsmajor Othmar Matzke aus Österreich “einzufliegen”. Matzke, ich sehe ihn heute noch in dem in den Dreifaltigkeitsberg hineingegrabenen Eiskeller sitzen, war der Kronzeuge gegen den Lügenbaron Robert Bürger, der (mit tatkräftiger Unterstützung der Lokalgeschichtsmatadoren Chrobak und Wanderwitz) das Märchen in die Welt gesetzt hatte, er allein habe die Stadt Regensburg vor der Zerstörung durch die Amerikaner bewahrt. Matzke dazu: “Der (Robert Bürger) war zu dumm zum lügen!”
    Matzke, auch er ein Wehrmachtsmajor a.D., gab der Wahrheit die Ehre. Die Verschonung der Stadt Regensburg war ein glücklicher Zufall, bei dem verschiedene Personen eine Rolle spielten (u.a. auch er, Matzke). Nur: wenn sie irgendeiner Instanz ganz sicher nicht zu verdanken ist, dann der Hitlerwehrmacht! Und schon gar nicht einem “Heldenmajor” namens Bürger. So habe ich Matzke in Erinnerung.
    Dann war da aber noch ein weiterer Referent bei diesem “Ortstermin” 1995: Heribert Prantl schlug im Spital-Eiskeller den Bogen zur Gegenwart. Der Innenpolitikchef der Süddeutschen (mittlerweile pensioniert) sprach über den Aufruf “Gegen das Vergessen”, der damals gerade Furore machte. Ein Rudel Rechtsradikaler machte zum 50. Jahrestag des Kriegsendes in einer großformatigen Anzeige in der FAZ Stimmung gegen die damals endlich sich durchsetzende Lesart, wonach der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war. Nein, der Tag der Kapitulation war der Tag der deutschen Erniedrigung, lamentierten sie in bester Nazi-Diktion. Heribert Prantl verstand es, das nationale Gejammer in aller Ruhe richtigzustellen.
    Dieser Art waren die “Ortstermine” von Günter Schießl: Augenzeugen, die die Märchen der Nazis vom Kopf auf die Beine stellten, historische Koryphäen von heute, die die erneuten Verdrehungen entlarvten. An einem Ort, der damals eine wichtige Rolle spielte: in den Spitalkeller flüchteten sich Ende April 1945 die Regensburger Obernazis, um von dort aus ihre Durchhalteparolen zu verbreiten.
    Günter Schießl hat journalistische Maßstäbe gesetzt, die heute in Regensburg niemand mehr erreicht. Bei der MZ sowieso nicht, dort versucht man es gar nicht erst. Ehre seinem Angedenken!

  • R.G.

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    Das Foto von Herrn Schießl spricht sehr an. Was für ein schöner Mensch!

    Herzliches Beileid seinen Angehörigen!

  • Mr. T.

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    Herr Rieger, vielen Dank für Ihren – sehr interessanten – Nachruf! Schade, dass es immer weniger Journalisten eines solchen Formats gibt.

  • Queen of Suburbia

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    Dem Dank Mr. T.s an Rigobert Rieger schließe ich mich gerne an. Sehr interessant.

  • Julian86

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    Während Günter Schießl journalistische Maßstäbe setzte, geht das Gros der MSM mit ihren haltungs-freien Mitarbeitern den Weg der demokratischen Verwahrlosung, wie sich am Beispiel des hier belegten SPD-Bashings zeigt. Man beachte die Liste der Schlagzeilen-Zitate der einzelnen Zeitungen.
    https://hinter-den-schlagzeilen.de/die-treibjagd

  • Jürgen

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    Danke Stefan, sehr gut geschrieben.

  • Julian86

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    Der Autor schreibt als
    https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Casimir_Marcinkus

    und bezeichnet DIE WOCHE
    “als aufklärerisches, liberales Kampfblatt, oft genug die einzige Stimme im dumpfkatholischen Kleinstadtsumpf, die die Fahne der Wahrheit, der Vernunft und des Anstands hochhielt.”

    Welchen Weg haben seither Wahrheit, Vernunft und Anstand in der Domstadt genommen?

  • Altstadtkönig

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    Nachdem ich gerade den Nachruf von Harald Raab auf Günter Schießl in der MZ (12.12.2019) nochmal nachgelesen habe, muss ich sagen, dass die Kritik von Marcinkus an Raab nicht nur in Hinsicht auf Schießls journalistisches Werk berechtigt ist. Nicht nur dieses wird dem Leser unterbelichtet präsentiert, auch Schießls Charakter erscheint in schrägem Licht. Da schreibt Raab gleich zu Beginn: “Sein Feld war nicht die große, weite Welt. Der gebürtige Brucker Günter Schießl war in Regensburg daheim…” Als einer, der Günter Schießl recht gut gekannt hat, möchte ich dieser leicht despektierlichen Beschreibung Schießls widersprechen. Sie klingt ja fast so, als sei Günter Schießl, in dem oberpfälzer Marktflecken Bruck (Landkreis Schwandorf) geboren, in der großen Stadt Regensburg gerade so zurechtgekommen. Die Wahrheit ist eine andere. Günter Schießl und seine Frau hatten zwei Jahrzehnte lang eine kleine Wohnung in Berlin. Mindestens einmal im Monat flüchteten sie aus dem Regensburger Kleinstadtmief übers Wochenende an die Spree, und sie liebäugelten jahrelang damit, ganz nach Berlin zu gehen. Ich weiß das deshalb noch so gut, weil mir die Schießls ihre Wohnung einmal für ein paar Tage überließen, das ist jetzt fast 25 Jahre her. Ich weiß sogar noch den Straßennamen, weil er so eigentümlich ist: Albrecht-Achilles-Straße. Das ist eine kleine Seitenstraße des Kurfürstendamms, ganz an seinem westlichen Anfang, wo so ein kleines Ein-Zimmer-Appartement damals noch bezahlbar war. Das ist zwar mindestens einen Kilometer vom östlichen Teil des Kudamms entfernt, dem eigentlichen Kudamm mit den mondänen Cafés, dafür ist am westlichen Ende die Schaubühne am Lehniner Platz, eins der bekanntesten Theater, in das die Schießls gern gingen und das von ihrem Unterschlupf aus gleich um die Ecke war. Doch das war nicht die einzige Beziehung, die Günter Schießl zu Berlin hatte. Wie Harald Raab in seinem Nachruf einfließen lässt, hat sich Schießl “an der Freien Universität zu Berlin einen akademischen Grad erworben”.
    Günter Schießl war also alles andere als ein Provinzler, der außerhalb seiner geliebten Heimatstadt Regensburg unbeholfen oder verloren gewesen wäre. Im Gegenteil, es zog ihn eigentlich immer fort. Zum Beispiel fuhr er auch im Zuge seiner Simon-Oberdorfer-Forschungen nach Holland, wo die Oberdorfers nach der Irrfahrt der St. Louis ja gelandet waren. Wie man in seinem Oberdorfer-Buch nachlesen kann, ermittelte Schießl in Holland das Haus, in dem die Oberdorfers ihre letzten Monate verbrachten, bevor sie deportiert und ermordet wurden. Welcher Regensburger Journalist fährt recherchehalber mal kurz nach Holland?
    Günter Schießl lebte mit seiner Frau in einem mittelalterlichen Regensburger Wohnturm, doch er blickte stets über den Tellerrand der Provinz hinaus. Er hätte sich selbst nie einen Weltbürger genannt, weil er sich selbst einfach nicht wichtig nahm, doch genau das war er: ein Weltbürger, dem die Stadt Regensburg unendlich viel zu verdanken hat. Friede seiner Asche!

  • Rigobert Rieger

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    Heute vormittag ist Günter Schießl bestattet worden, im engsten Familienkreis. Auf den Regensburger Friedhöfen, so viel sei verraten, sucht man sein Grab vergebens. Zwischen den um Größe und Glanz des Grabsteins konkurrierenden und auftrumpfenden bürgerlichen Gräbern war es ihm zu eng. Überhaupt waren ihm die vielbesungenen Regensburger Stadtmauern zu eng, zu sprachlos, zu kalt.
    Günter Schießl ist an einem ihm angemessenen, freundlichen Ort bestattet worden. Dennoch, wenn man daran denkt, dass Regensburg vom Stadtmarketing als “nördlichste Stadt Italiens” angepriesen wird, dann hat man natürlich sofort das Bild vor Augen, das man von Italien her kennt, wenn dort jemand gestorben ist, der sich um die Stadt verdient gemacht hat: Günter Schießls Sarg wird durch die Altstadt getragen, und tausend Passanten klatschen Beifall.
    Wird wohl noch hundert Jahre dauern, bis Regensburg so weit ist.

  • Queen of Suburbia

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    @Julian86: Welch ein schönes Beispiel dafür, dass es glücklicherweise noch Dinge gibt, die man selbst im allwissenden Internet nur dann finden kann, wenn man sie schon vorher weiß. Bei mir hat es aber auch erst „geklingelt“, als ich ganz am Schluss über das völlig unpassende „Er lebe hoch!“ für den Verstorbenen gestolpert bin. Dies gilt ganz offensichtlich nur vordergründig Günter Schießl, hintergründig verweist es auf niemanden anderes als den Autor selbst. Das Pseudonym bezieht sich wohl auf den Amberger Satiriker und Schriftsteller Eckhard Henscheid und sein Büchlein „Hoch lebe Erzbischof Paul Casimir Marcinkus“.

    Aber eigentlich hatte ich gar nicht vor, nochmal auf Marcinkus einzudreschen. Betrachten wir diesen Artikel einfach als einen Ausrutscher, wie er halt überall mal vorkommen kann.

    Tatsächlich schätze ich regensburg-digital ja außerordentlich für richtig guten Lokaljournalismus von einer Qualität, wie man sie nur durch Authentizität erreicht. Dazu gehören Mut und Gespür für wichtige Themen, sowie enorm viel Mühe, wie z.B. die vielen Tage, an denen sich Stefan Aigner und Martin Oswald in die Wolbergs-Prozesse setzten, oder die Fälle, die Otmar Spirk aus seinem Berufsalltag erzählt u.v.m. Darüber hinaus gefällt mir die Art von feinem Humor, wie er gelegentlich durchspitzt. Herzlichen Dank an Stefan Aigner und sein Team für die sehr gute und im allgemeinen sehr gelungene Arbeit in diesem Jahr!

  • Stefan Dannert

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    @Rigobert Rieger
    “in den Spitalkeller flüchteten sich Ende April 1945 die Regensburger Obernazis, um von dort aus ihre Durchhalteparolen zu verbreiten.”

    Der Spitalkeller war von 1943 bis 1949 geschlossen….

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