Ankerkind sucht Heimathafen – ein Tagebuch (X)
„…nehmen Sie doch einen Flüchtling auf, wenn Sie unbedingt helfen wollen!“ Dieser Standardsatz fällt häufig, wenn über die Situation von Flüchtlingen in Deutschland diskutiert wird. In unserer neuen Serie erzählt eine Mutter davon, wie eine Familie lebt, die zwei unbegleitete Flüchtlingskinder aufnimmt. Muslime in einer christlichen Familie, arabische Jungs bei einem Hausmann, syrische Söhne in einer Beamtenfamilie, orientalische Sitten zwischen deutschen Traditionen, Damaszener in einem bayerischen Dorf. Spannungsreiches und spannendes Zusammenleben und Zusammenwachsen. Die Namen haben wir geändert. Teil X.
25. April 2016: Ich schreibe zurzeit die Übertrittszeugnisse für alle Schüler der 4. Klasse, also auch für Hamza. Es ist ziemlich schwer, für ein Kind eine Beurteilung vom Sozialverhalten und vom Lern- und Arbeitsverhalten zu schreiben, wenn man so befangen ist. Paul meinte ja schon vor einigen Wochen, dass es eigentlich nicht fair von mir ist, Hamza für die Mittelschule vorzusehen, wenn er eigentlich ähnliche Voraussetzungen hat wie sein Bruder, der ans Gymnasium geht.
Meine Idee war eigentlich, dass Hamza die 5. Klasse noch einmal am Gymnasium im Schuljahr 2017/1 8 machen könnte. Aber warum muss er eigentlich dieses Jahr noch investieren, wenn es auch anders geht? Er bekommt für zwei Schuljahre keine Noten, das bedeutet, dass er am Ende der 5. Klasse Gymnasium ohne Notengebung in die 6. Klasse gehen kann, wenn es klappt. Paul und ich wollen uns einen Termin bei Herrn Bachmann geben lassen, dem Direktor des Gymnasiums, denn wenn schon, dann sollten beide an die gleiche Schule gehen.
Ankerkind sucht Heimathafen
Am Wochenende war Ismail bei uns und Ziad war bei der Pflegefamilie seines Freundes. Schön war eine fast zweistündige Wanderung durch den Wald bei den Steinbrüchen. Die Jungs freuten sich über morsche Bäume, die sie „fällten“, über einen kleinen Weiher, über Schneefall und Sonnenschein. Vor allem aber Blacky-Hund hatte viel Spaß mit jeder Menge Holz zum Fangen und Zurückbringen.
Jetzt (Montagmorgen, kurz vor neun Uhr) sitzt Hamza im Klassenzimmer und schreibt seinen ersten Aufsatz – zwei Sachtexte, eine Vorgangsbeschreibung zum Linksabbiegen mit dem Fahrrad und die Beschreibung eines Turmfalken, der auf einem Bild zu sehen ist.
3. Mai 2016: In diesen Tagen schaue ich morgens auf das Thermometer und dann aus dem Küchendachfenster nach oben und meine: „Fünf Grad, es regnet nicht.“ Ziad: „Noch nicht, sozusagen.“
Paul hat sich über die Rechtsschutzversicherung um einen Rechtsanwalt bemüht. Die Auskunft von Herrn Breer ist leider genauso, wie wir es eigentlich schon vermutet hatten: Der Flüchtlingsstatus wird nur bei z.B. politisch Verfolgten gewährt. Unsere syrischen Jungs werden auch nur einen subsidiären Schutz erhalten. Auch wenn ich denke, dass es doch anders möglich sein sollte. Sie sind über die Balkanstaaten eingereist und haben keine direkte Verfolgung in ihrem Heimatland erlitten.
Ziad zeigt mir Bilder von Aleppo in diesen Tagen. Hier fallen wieder die russischen Bomben. Er zeigt mir auch kurze Aufnahmen von Straßenszenen. Soldaten gehen an Häusern vorbei, rufen laut und haben die Gewehre im Anschlag. Hinter den Soldaten fahren weiße, hochmoderne Reisebusse. Die sind besonders gefürchtet, weil damit die jungen Männer abtransportiert werden.
Freiheit sieht so aus: Øرية
Straßensperren sind üblich. Ziad berichtet von drei Fahrspuren: Eine für Busse, die Menschen transportieren, die zur Arbeit gefahren werden. Auch sein Vater wird in einem solchen Bus zur Arbeit gefahren, wo er mit Maschinen für die Textilverarbeitung beschäftigt ist. Die zweite Fahrspur ist für die Soldaten, sie ist immer frei. Auf der dritten Fahrspur stauen sich die Autos stundenlang. Die Soldaten entscheiden einfach selbst, was sie an dieser Stelle tun. Wenn ihnen ein Mädchen in einem Bus gefällt, dann muss es aussteigen. Junge Männer werden besonders kontrolliert.
Seine Eltern waren immer in Sorge, bis er von der Schule nach Hause gekommen ist. Einmal war es so, dass er an einem Checkpoint besonders untersucht wurde und er und zwei Freunde mussten in ein Fahrzeug steigen. Es sollte nach Idlib in den Norden gehen, wo gerade gekämpft wurde. Zum Glück wurden die Jungs noch einem anderen „Chef“ in der Nähe vorgestellt. Der meinte: „Was willst du mit den Kindern?“ und dann wurden die Jungs wieder frei gelassen.
Ziad zeigt mir, was er im Kunstunterricht am Montag, 2. Mai, gemacht hat. Es war die Aufgabe ein Wort zu nehmen und es zu verfremden. Er durfte auch ein arabisches Wort nehmen.
Er hat hurriyya genommen. Es bedeutet Freiheit und sieht so aus: Øرية Diesen Schriftzug kann man so zeichnen, dass er aussieht wie ein zufriedenes Gesicht. Ziad erzählte, dass das 2011 in Syrien viele dieses Zeichen an die Wand gemalt haben. Er meinte, dass man Kindern, die man dabei erwischt hatte die Fingernägel…
Leichtes Leben, schweres Leben
Und so entsteht in diesen Tagen bei mir „leichtes Leben“ und „schweres Leben“. Leichtes Leben ist: Fahr doch nach Berlin zur Klassenfahrt. Wir zahlen die 300 Euro dafür. Schweres Leben ist: Mein Vater verdient so viel Geld in drei Monaten nicht. Leichtes Leben: Hamza macht in dieser Woche seinen Fahrradführerschein. Schweres Leben: Heute erklären Vormund Faber und der Übersetzer Charly, dass es wohl noch sehr lange dauern wird, bis Hamza zur Anhörung kommt. Warum? Weil Asylverfahren von Kindern so lange verschleppt werden, bis es vertretbar ist, dass sie zum Familiennachzug bis zur Volljährigkeit noch warten müssen. Das heißt: Wartezeit zur Zeit vier Jahre; Hamza ist zwölf; also wird sein Antrag vermutlich erst in zwei bis drei Jahren zur Anhörung kommen.
Ziad möchte B1 Sprachkurs besuchen, bei der VHS nach der Schule. Es läuft einer von 13 bis 16 Uhr im Juni. Ziad möchte gerne arbeiten. In den Ferien oder auch nach der Schule. Am liebsten ganz legal mit Formular. Hm… Wochenblatt austragen (wie das Ahmad soll), das gefällt mir nicht. Briefkasten neben dem Zaun wo der Hund läuft… Nein, hoffentlich finden wir noch etwas Anderes.
„Tea with Cardamom“ – auch nicht schlecht.
Ziad hat abgespült „…hat das zu lange gedauert?“ Nein, hat es nicht.
Immer noch kein Bescheid von der Postbank und keine Karte für das Konto.