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Artist in Residence-Projekt

Die unbekannte Ukraine in der Ganghofersiedlung Regensburg

Als Artist in Residence hat sich die ukrainische Künstlerin Anastasiia Leliuk mit einem Stück Regensburger Nachkriegsgeschichte befasst, das kaum bekannt ist: mit der ukrainischen Community in der Ganghofer-Siedlung.

Im Süden von Regensburg wurde 1936 für den NS-Rüstungsbetrieb Messerschmitt eine komplett neue Siedlung errichtetet, das sogenannte „Göring-Heim“, nach Ende des NS-Regimes: Ganghofer-Siedlung.  Bild: Europaeum Uni Regensburg

Nach vielfältiger Recherche zeigte sie letzten Freitag in ihrem Atelier im Wiedamann-Haus das Ergebnis ihres künstlerischen Schaffens zur so genannten „Kleine Ukraine“ (1946-1949). Zeichnungen, handgeschriebene KI-Übersetzungen von zeitgenössischen Dokumenten, verhüllte Portraits. Leliuk nennt sie„portaits of unknow“.

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Vor rund zwanzig neugierigen Besuchern erzählt Leliuk bei ihrer Präsentation, dass sie sich auf das von der Stadt Regensburg ausgeschriebene Artist in Residence Projekt mit eben diesem Thema, Kleine Ukraine, erfolgreich beworben habe. Dass es in Regensburg nach dem Krieg bis 1949 eine ukrainische Community gab, die viele tausend Köpfe zählte, habe sie dabei erst durch eine Internet-Recherche erfahren.

Anastasiia Leliuk bei der Eröffnung ihrer Ausstellung im Wiedamann-Haus vergangenen Freitag. Foto: rw

Um die historischen Zusammenhänge und Hintergründe zu verstehen, versorgte sie – neben anderen – der 2018 emeritierte Professor für Slavische Literatur- und Kulturwissenschaft, Dr. Walter Koschmal, als fachkundiger Experte mit Material und Unterlagen.

Zwangsarbeit am Rüstungsstandort Regensburg

Dass es in Regensburg Camps für Displaced Persons (DP), eine Kleine Ukraine gab, hat mit der Rüstungswirtschaft und dem Vernichtungskrieg des NS-Regimes zu tun. Damit der für das Naziregime sehr bedeutsame Rüstungskonzern Messerschmitt das Standard-Jagdflugzeug der Luftwaffe, die Bf109, im geforderten Umfang produzieren konnte, wurden in Regensburg ab 1936 riesige Produktionsstätten aufgebaut.

Mit maßgeblicher Unterstützung der Nazibürgermeister Hans Herrmann und Oberbürgermeister Otto Schottenheim. Schon 1939 wurde das Werk als „NS-Musterbetrieb“ ausgezeichnet. Für seine stark anwachsende Belegschaft wurde ein eigenes Wohnviertel aus dem Boden gestampft: das Göring-Heim.

“Temporary residence of Ganghofersiedlung”, A. Leliuk, 2025. Foto: r.w.

In der Hochzeit arbeiteten im Werk bis zu 14.000 Beschäftigte, seinerzeit Regensburgs größter Arbeitgeber. Um das Werk, gelegen in der Nähe des Krankenhaues Barmherzige Brüder, wurden auch Baracken für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter errichtet, die mehrheitlich aus der Ukraine und anderen Sowjetrepubliken stammten. Nach ihrer Befreiung 1945 gingen die allermeisten der in Regensburg ausgebeuteten Displaced Persons (DP) in ihre Herkunftsorte zurück.

Entnazifizierung und Wohnraumbeschaffung

Nach der Kapitulation der Nazis ordnete die Amerikanische Militärregierung im Mai 1945 an, alle Symbole und Namen von Nazi-Größen zu entfernen. Da Unterkünfte für die DPs benötigt wurden, ordnete die amerikanische Militärregierung im Oktober 1945 an, ein „neues Ausländerviertel“ aufzubauen: aus Göring-Heim wurde so die Ganghofer-Siedlung. Die dort wohnenden, zumeist deutschen Messerschmitt-Arbeiter mussten Ende Oktober 1945 ihre Werkswohnungen räumen, Displaced Persons durften einziehen.

Sie kamen hauptsächlich aus baltischen Staaten, der Ukraine, Polen und Russland. Betreut wurden sie anfangs von der UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration, eine internationale Organisation und Vorläufer der UNO).

“Portraits of unknown”, A. Leliuk, 2025. Foto: r.w.

Russische Leute wurden noch 1945 großenteils (auch zwangsweise) in ihre Heimatländer zurückgeschickt. Bis Ende 1946 widerfuhr das auch rund 1.200 Menschen mit polnischer Nationalität. Damit stiegen die Ukrainer zur größten nationalen Gruppe auf. 4.000 bis 6.000 DPs lebten in etwa 880 Häusern in der zwischenzeitlich eingezäunten Ganghofer-Siedlung.

Nationalisten dominierten Alltag und Erinnerung

Setzte sich die ukrainische Bewohnerschaft anfangs aus befreiten KZ-Häftlingen, Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen, Kriegsgefangenen und ehemaligen Soldaten zusammen, aus Menschen diverser (un)politischer Lager zusammen, stieg in der Folge der Anteil derer, die nicht zurückgehen wollten. Nicht zurück in die zur UdSSR gehörende sozialistische Republik Ukraine, wo ihnen die (Straf-)Verfolgung drohte oder das stalinistische System auf sie wartete.

In der am südlichen Stadtrand von Regensburg gelegenen Siedlung dominierten so bald Mitglieder der ukrainischen Nationalbewegung (OUN) und der Ukrainischen Aufständische Armee (UPA). Auch während der ersten Nachkriegsjahre setzten sich wiederholt „ukrainische Freiheitskämpfer“ nach Bayern und Regensburg ab, die an kriegerischen Auseinandersetzungen und Überfällen gegen Polen und Russland im Bereich der heutigen Ukraine beteiligt waren.

Ukraine im Kalten Krieg

Die britischen und amerikanischen Geheimdienste bemühten sich um diese rechts-nationalistischen, oft antisemitischen Ukrainer, die jahrelang Juden und politische Gegner innerhalb der Ukraine verfolgten und gegen Polen und Russen in militärischen oder Partisanenverbänden kämpften. Im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion galten sie als potentielle und tatsächliche Agenten, als kampferprobte Verbündete, trotz (oder wegen) ihrer teils kriminellen Praxis.

Von den Holzbalkonen und Holzwäscheleinen in den kleinen Gärten der Ganghofersiedlung ist heute nichts mehr übrig. Das Viertel wurde modernisiert. Quelle: Europaeum

So baute der von einigen Historikern (und schon in einem Bericht der Mittelbayerischen Zeitung von September 1947) als Faschist eingestufte und seit 1946 in München lebende Stepan Bandera mit Hilfe der CIA die Strukturen der OUN in München bzw. im ganzen Amerikanischen Sektor neu auf. In der Ganghofer-Siedlung hatten Banderas Gefolgsleute Führungsfunktionen inne. Dort errichtete man konsequenterweise für die „Ukrainischen Freiheitskämpfer“ ein Denkmal, das um 1949 wieder abgetragen wurde.

Auflösung der Kleine Ukraine

Im September 1949 wurde die Ganghofer-Siedlung als DP-Camp aufgelöst. Die bis zuletzt in der Siedlung verbliebenen Displaced Persons, mehrheitlich Ukrainer und Ukrainerinnen wurden in andere bayerische Camps (Ulm, Ingolstadt und Amberg) umgesiedelt – laut erhaltenen Namenlisten gut 3.000. Andere waren zu diesem Zeitpunkt bereits in die USA, nach Kanada und Australien emigriert, einige nach Belgien. Deutsche Familien konnten sich bald darauf wieder auf die freiwerdenden Wohnungen bewerben.

Anastasiia Leliuk Foto: Leliuk

Dass der blutige ukrainische „Freiheitskampf“ sich auch gegen Polen und Russland richtete, ihre Kämpfer Massenmorde an Jüdinnen und Juden und politische Gegner unter den Ukrainern verübten und nicht wenige aus der Ganghofer-Siedlung in SS-Einheiten und nationalsozialistischen Polizeiverbänden an NS-Verbrechen beteiligt waren, all das blieb nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust unter der Decke des Kalten Krieges.

Welche stadtgeschichtliche Auswirkung diese beträchtliche Ansammlung von Pogromisten, von NS-Tätern und Helfern der NS-Schergen hatte, wurde bislang nicht untersucht geschweige denn geklärt.

Bandera als nationale Identifikationsfigur

Die Künstlerin Anastasiia Leliuk wurde vor 28 Jahren im ukrainischen Luhansk geboren, nach der Schule absolvierte sie die Nationale Akademie der Bildenden Künste in Kiew, arbeitete und präsentierte sich als Künstlerin in mehreren europäischen Ländern. Auch in Japan stellte sie aus.

“Differnt sights”, A. Leliuk, 2025. Foto: r.w.

Im Gespräch mit dem Autor dieses Berichts zeigt sie sich beeindruckt von der Existenz einer ukrainischen Nachkriegs-Gemeinde in Regensburg. Ebenso von den vielen in Bayern untergekommenen Ukrainerinnen und Ukrainern, von der Tatsache, dass der Nationalheld Stephan Bandera in München lebte und 1956 vergiftet wurde.

Leben im russischen Angriffskrieg

Trauernd erzählt Leliuk von den vielen Freunden, die im russischen Angriffskrieg getötet wurden. Vom Vater, der seit 2002 in der Armee gegen die russischen Angreifer kämpft und sich die Tochter an seiner Seite wünscht. Von der Großmutter, die im von Russland de facto annektierten Luhansk lebt und ihr Haus und die ihr vertraute Umgebung nicht verlassen will. Leliuk ist keine konservative Nationalistin, sie wünscht sich eine liberale und demokratische Ukraine. Eine europäische Ukraine, deren Leute endlich in Frieden leben können.


Info zu ARiR

Mit insgesamt knapp 180 Quadratmetern bieten die zwei Atelierwohnungen mit Werkstattcharakter und der Begegnungs- und Gemeinschaftsraum „Brück4“ viel Raum für Kreativität, Begegnung und Austausch. Früher befanden sich hier die Werkstatt und das Chefbüro der ehemaligen Zinngießerei Wiedamann. In Anlehnung daran sollen die Räumlichkeiten auch zukünftig als Werkstätten des kreativen Schaffens fungieren.

Das RAiR-Programm orientiert sich dabei an vergleichbaren Artists-in-Residence-Programmen und greift den Gedanken eines familien- und kinderfreundlichen Programms auf.


Als Künstlerin arbeitet Leliuk hauptsächlich mit Malerei, Skulptur, Fotografie und Installationen. Für die Reihe der eingangs erwähnten verhüllten Porträts (darunter vier Tiere) ließ sie sich von einem amerikanischen Dokumentationsfilm zur Kleinen Ukraine inspirieren, im dem originale Filmaufnahmen der US-Militärs verwendet werden.

Diese Aufnahmen seien so unscharf gewesen wie ihre Porträts, oder Erinnerungen oftmals, so Leliuk. Nationale Symbole verwendet Leliuk in ihren Kunstwerken nicht, politische Aussagen vermeidet sie. Sie ist keine politische Künstlerin.

Ukrainerin im Wiedamann-Haus

Wie eng die neuere Geschichte Regensburgs mit dem Schicksal vieler Ukrainer verwoben ist, zeigt sich auch an Leliuks Arbeitsort: dem Wiedamann-Haus, im dem die Regensburger Kulturverwaltung Räume für die RAiR-Ateliers angemietet hat. Zur Erinnerung: Es war die Zinngießerei Wiedamann, die für den NS-Rüstungskonzern Messerschmitt Metallteile produzierte und dabei ukrainische und sowjetische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen ausbeutete und denunzierte, falls sie ihre Leistung zu gering bewertete.

Michail Miljanenko musste als sowjetischer Kriegsgefangener bei Wiedamann Zwangsarbeit leisten. Nachdem Wiedamann in wegen mangelnder Arbeitsleistung denunzierte kam er 1944 in KZ Flossenbürg, später ins KZ Natzweiler wo er im April 1945 starb. Quelle: Memorial Archives

Diese Aspekte nimmt Anastasiia Leliuk im Gespräch mit etwas Verwunderung, aber interessiert zur Kenntnis, liest Dokumente und Unterlagen dazu. Auch das von „der Presse“ erfundene Geheimzimmer im Wiedamann-Haus, das im Zentrum sensationslüsterner und geschichtsklitternder Berichterstattung stand, zeigt Leliuk anlässlich des Interviews dem Autor kurz. Es wird nur rasch durchschnitten, bleibt aber in ihrer Arbeit außen vor.

Leliuk geht es aktuell um die hochkomplexe Situation von tausende Ukrainerinnen und Ukrainer, die nach dem Ende des Naziregimes in Werkswohnungen des Nazi-Rüstungskonzerns Messerschmitt unter- und zu Kräften gekommen sind.

Diese Tage kehrt Anastasiia Leliuk ins kriegsgebeutelte Kiew zurück.

 

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