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Erinnerungen an die Ganghofersiedlung

Die westlichste Stadt der Ukraine

Fast 2.000 Ukrainerinnen und Ukrainer suchen derzeit in Regensburg Zuflucht. Was heute vielen unbekannt sein dürfte: Schon einmal wurde Regensburg zu einer „kleinen Ukraine“. Die Uni Regensburg zeigt darüber diese Woche einen Film von 1982.

Von den Holzbalkonen und Holzwäscheleinen in den kleinen Gärten der Ganghofersiedlung ist heute nichts mehr übrig. Das Viertel wurde modernisiert. Quelle: Europaeum

Die Fassade weiß gestrichen, vor ein paar Jahren erst saniert. Auch die akkurat sitzenden dunkelgrünen Fensterläden im Erdgeschoss der Hausnummer 11 zeugen von der Veränderung. Vor dem Haus in der Franz-von-Kobell-Straße, benannt nach einem bedeutenden Mineralogen des 19. Jahrhunderts, steht der Regensburger Slawistik-Professor Walter Koschmal mitten in der Ganghofersiedlung. „Heute sind die Häuser fast alle grundsaniert und modernisiert“, sagt er.

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„Göring-Heim“ wurde saniert

Westlich an das BKH- und Uni-Gelände anschließend, reihen sich die für heutige Verhältnisse eher kleinen Einfamilienhäuser wie an einer Perlenkette auf. Im Grundaufbau sind sie nahezu identisch. An einigen wurde mittlerweile aber ein Anbau getätigt. „Das hat dadurch nicht mehr den gleichen Flair wie früher“, sagt Koschmal ohne Wertung. Aber die Siedlung hat sich stark verändert, das ist deutlich zu sehen.

Zwei Häuser in der Franz-von-Kobell-Straße stechen aber noch heraus. An ein paar Stellen ist der Putz abgebröckelt. Statt einem einheitlichen Weiß, ist die Fassade hier noch fleckig grau. Die Spuren der Vergangenheit sind hier noch zu sehen. Gegenüber erstrahlen die parallel zur Straße gestellten Mehrparteienhäuser hingegen in neuem Glanz. 2010 erwarb das Immobilien Zentrum Regensburg das Areal und sanierte es für rund 130 Millionen Euro. Anfangs gab es Widerstand vieler Anwohner. Sie fürchteten durch die Luxusobjekte weg gentrifiziert zu werden. Viele sind mittlerweile verzogen.

Ein heute seltenes Bild in der Ganghofersiedlung. An vielen Häusern wurden Anbauten getätigt und Sanierungen abgeschlossen. Foto: Bothner

Seit ihrer Errichtung 1939 hat die Ganghofersiedlung mehrere Epochen durchschritten. Einst unter dem Namen „Göring-Heim“ wollten die Nazis hier die Arbeiter der Regensburger Messerschmitt-Werke unterbringen. Dass die Straßenzüge, die barackenhafte Architektur und Anordnung der Häuser ein bisschen an Kasernen erinnert, mag daher kaum verwundern. „So eine Siedlung wie hier ist mir sonst eigentlich aus keiner anderen deutschen Stadt bekannt“, sagt Koschmal bei einem kurzen Rundgang.

Schon nach dem II. Weltkrieg flohen viele Ukrainer nach Regensburg

Sechs Jahre dauerte diese erste Epoche der Siedlung. Dann kam der Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland. Regensburg fiel unter US-Kontrolle. Die Bewohner von „Göring-Heim“ mussten weichen. Das Areal wurde in Ganghofersiedlung umbenannt und zu einem Camp für Displaced Persons (DP) – heimatlose Ausländer, die nach Kriegsende aus Osteuropa flohen. Nach Regensburg kamen vor allem Menschen aus der Ukraine.

Das Gebiet war längere Zeit von Nazi-Deutschland besetzt. Nicht alle dürfte das gestört haben. Vielen war Hitler lieber als Stalin. Das hatte nicht zuletzt mit der Hoffnung zu tun, unter den Nazis womöglich einen unabhängigen Staat aufbauen zu können. Manche wurden Teil des NS-Apparats, machten zum Beispiel als KZ-Aufseher Karriere.

Im Süden der Stadt errichteten die Nazis eine komplett neue Siedlung. Im „Göring-Heim“ kamen ab 1939 Arbeiter der Kriegsindustrie unter. Bild: Europaeum Uni Regensburg

So auch John Demjanjuk, der 2011 in München wegen Beihilfe zum Mord an 28.060 Menschen im Vernichtungslager Sobibor verurteilt wurde. 1947 lebte Demjanjuk kurzeitig in der Ganghofersiedlung. „Wir wissen natürlich, dass hier auch Leute lebten die mit den Nazis kooperiert haben“, sagt Koschmal. Das sei „überhaupt keine Frage“. Der Leiter des Europaeum an der Uni Regensburg verweist dabei auf ein kleines Detail. In späteren Briefen und Texten hatten die Menschen ihre Zeit im DP-Camp rückblickend als geradezu paradiesisch beschrieben und als mit die „schönste Zeit in ihrem Leben“. Von „good old Regensburg“ sei immer wieder zu lesen gewesen, sagt Koschmal.

Regensburg bot vergleichsweise viel Platz

Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Osteuropa und insbesondere Russland und der Ukraine. Über seine Arbeit kam er irgendwann auch auf die Historie der Ganghofersiedlung und wie sie für ein paar Jahre zu einer „kleinen Ukraine“ am südlichen Rand der Domstadt wurde. Weil Regensburg im Krieg weitestgehend verschont und erhalten blieb, habe die Stadt viel Platz und Wohnraum geboten, verglichen mit anderen Städten. Auch deshalb hätten die Alliierten hier eines von mehreren DP-Camps in Bayern errichtet, erklärt Koschmal.

Während an Regensburg viele Erinnerungen erhalten sind, gebe es „aber nicht eine Erwähnung an die Zeit davor“. „Die wurde schlichtweg verdrängt.“ Koschmal spricht von einer „undefinierten Angst, über diese Zeit zu reden“. Daher könne auch nicht geklärt werden, wie viele der nach Regensburg Geflüchteten zuvor mit den Nazis paktiert hatten. Der größte Teil der Geflüchteten seien aber wohl Zwangsarbeiter gewesen. Sie flohen nach Kriegsende vor der Sowjetunion. Kamen nach Regensburg und standen vor einer ungewissen Zukunft.

Bis zu 5.000 Menschen lebten hier

In der Spitze lebten hier über 5.000 Menschen. Darunter auch Bohdan Z. Malaniak. Bei seiner Arbeit stieß Koschmal 2014 in New York auf einen alten Film. „Striving for dignity“ – nach Würde streben – heißt der Streifen. Es sind Aufnahmen von 1947, gepaart mit den romantisierten, pathetischen Erinnerungen Malaniaks an seine Jugend in der Ganghofersiedlung. Der rund halbstündige Film sei ein einzigartiges – wenn auch nicht ganz objektives – Zeitdokument über Regensburg, die Nachkriegszeit und über Displaced Persons, sagt Koschmal.

Diesen Donnerstag und Samstag zeigt das Europaeum den Film jeweils um 18 Uhr im Andreasstadl. „Wir haben auch gezielt Ukrainer eingeladen.“ Ein Angebot zum Austausch sei das. In der Ukraine sei dieser Film zudem überhaupt nicht bekannt. Aber auch in Regensburg, wo der Film 2015 erstmals gezeigt wurde, sei die „kleine Ukraine“, die zwischen 1945 und 1950 existierte, noch immer vielen kein Begriff.

Ein Mikrokosmos im Süden der Stadt

Ein eigener kleiner Mikrokosmos hatte sich hier schnell herausgebildet. „Hier haben auch viele bekannte ukrainische Kulturschaffende der damaligen Zeit gelebt und gewirkt“, berichtet Koschmal. Es habe ein reiches gesellschaftliches Leben gegeben, sportliche Aktivitäten. Eine Apotheke, ein eigenes Krankenhaus, sogar eine Post gab es. Um mit anderen DP-Camps zu kommunizieren, brauchte es spezielle Briefmarken. Die wurden in der eigenen Druckerei produziert.

Weil nur das Regensburger Camp eine eigene Druckerei hatte, wurden sämtliche Briefmarken, die ukrainische Geflüchtete in Deutschland für ihre Kommunikation brauchten, in der Ganghofersiedlung gedruckt. Quelle: Europaeum

Im Gymnasium sollen Briefen von damals zufolge die „besten Lehrer überhaupt“ anfangs vor allem ukrainisch gelehrt haben. Da habe laut Koschmal noch die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr in die Heimat bestanden. „Ab 1947 aber, wissen wir, wurde vermehrt Englisch unterrichtet.“ Immer mehr zog es Menschen nach Übersee, sah man doch mit Stalin im Osten keine Zukunft mehr.

Anfang der 1950er dann wurde das Camp in Regensburg aufgelöst. Viele der kurz nach Krieg vertriebenen Menschen zogen wieder in ihre Häuser. Doch nicht alle Ukrainer wanderten damals in die USA aus. Etwa tausend, schätzt Koschmal, sind in Regensburg und der Umgebung geblieben. Genau wisse man das nicht. Und schon gar nicht, was aus diesen Menschen geworden ist. Heute firmiert das Areal unter dem Namen „Grüne Mitte“. Viel hat sich verändert. Wenig erinnert an die Vergangenheit. „Es gibt allerdings noch viele offene Fragen“, sagt Koschmal.

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Kommentare (2)

  • joey

    |

    Kollaborateure gab es jede Menge – in ganz Europa. Mal unter Zwang (in verschiedensten Stufen), mal aus nationalistischen Motiven, mal aus blankem (traditionellen) Judenhaß.

    Mein Großvater hat bei seiner Gefangennahme angegeben, Deutscher zu sein (er hatte 1943-1945 auch eine deutsche Uniform an). Damit war soweit sicher, daß er mit Familie nicht in den Machtbereich Stalins abgeschoben wurde, was ja auch in vielen Fällen passierte und dann früher oder später mit dem Tod im Gulag endete. Der Sowjetmensch hatte zu kämpfen und zu sterben. Überlebende waren Verräter…

    Nach 45 gab es natürlich nur Opfer des NS. Heute helfen Archive bei der Familienforschung, z.B. das Bundesarchiv in Reinickendorf (Personalakten der bewaffneten Einheiten des dt. Reiches). Das kostet kein Geld, nur Mut. Wer nicht wissen möchte, was seine Großeltern getan haben, ist einer von denen, die “es nicht wissen wollen”. Die kennt man von früher…

  • R.G.

    |

    Name und Aussehen der Häuser ähneln einem Stadtteil in der zweiten Lieblingsstadt des Diktators.
    1938 wurden in Linz an der Donau tausende Menschen umgesiedelt, um auf ihrem Stadtteil St. Peter Zizlau die Hermann Göring Werke errichten zu können, heute Voestalpine.
    Ein halbes tausend Hausbesitzer unter den Enteigneten erhielt Ersatzhäuser gleich denen im Göring-Heim in Regensburg. Welche Pläne früher standen, ist mir noch nicht bekannt.

    https://stadtgeschichte.linz.at/denkmal/Default.asp?action=denkmaldetail&id=2262
    https://www.linzwiki.at/wiki/Schaunbergerstra%C3%9Fe/
    https://www.linzwiki.at/wiki/Scherfenbergerstra%C3%9Fe/
    An den Stadtteil anschließend gab es unter anderem Kriegsgefangen- und Zwangsarbeiterlager, wohl auch Außenlager des KZ Mauthausen, die nach Kriegsende zu Displaced Persons Camps für Flüchtlinge aus dem Osten wurden.
    Als Heimatvertriebene schließlich Ende der Fünfziger Jahre der Bau von Einfamilienhäusern ermöglicht wurde, nicht zuletzt aus Geldern der Caritas und holländischer, belgischer sowie skandinavischer Kleinspenden, schrieb man ihnen zwingend vor, den Regensburger Haustyp aus dem Göring Heim kopieren zu müssen. Sonst sollten sie in den Baracken bleiben.
    Etliche spätere Regensburger Heimatvertriebene wären den Erzählungen nach zuvor in diesen Lagern in und um Linz gewesen. Die Überlieferung sagt, eigentlich hätte so gut wie jeder nach Kanada oder den Vereinigten Staaten gewollt, außer sie wussten in der Urheimat, von wo die Kolonisten einst gegen den Osten gezogen waren, noch Verwandte. Jedoch ließen die USA ab einem Stichtag vermeintliche überzeugte Nazis, ehemalige SS und Helfer der SS, nicht mehr einreisen.
    Der Schnitt der letzlich in Bayern bzw. in Österreich Verbliebenen habe daher einen höheren Schnitt an Überzeugten gehabt.

Kommentare sind deaktiviert

drin