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Serie

Ankerkind sucht Heimathafen – ein Tagebuch (XII)

Ankerkind1„…nehmen Sie doch einen Flüchtling auf, wenn Sie unbedingt helfen wollen!“ Dieser Standardsatz fällt häufig, wenn über die Situation von Flüchtlingen in Deutschland diskutiert wird. In unserer neuen Serie erzählt eine Mutter davon, wie eine Familie lebt, die zwei unbegleitete Flüchtlingskinder aufnimmt. Muslime in einer christlichen Familie, arabische Jungs bei einem Hausmann, syrische Söhne in einer Beamtenfamilie, orientalische Sitten zwischen deutschen Traditionen, Damaszener in einem bayerischen Dorf. Spannungsreiches und spannendes Zusammenleben und Zusammenwachsen. Die Namen haben wir geändert. Teil XII.

Montag, 9. Mai 2016: Aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch BGB § 1791a Vereinsvormundschaft:

„(1) Ein rechtsfähiger Verein kann zum Vormund bestellt werden, wenn er vom Landesjugendamt hierzu für geeignet erklärt worden ist. Der Verein darf nur zum Vormund bestellt werden, wenn eine als ehrenamtlicher Einzelvormund geeignete Person nicht vorhanden ist oder wenn er nach § 1776 als Vormund berufen ist; die Bestellung bedarf der Einwilligung des Vereins.“

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Die Vormundschaft für Hamza ist bei der Caritas. Dadurch ist das Kind abgesichert, wenn die Pflegeeltern nicht richtig für das Kind sorgen. Außerdem kann so neben der Verantwortlichen beim Jugendamt noch eine zweite Instanz im Konfliktfall vermitteln. Nach einem halben Jahr sind wir nun so mit Hamza vertraut, dass die Vormundschaft für uns zum einen eine Hilfe (Asylverfahren), zum anderen aber auch ein Hemmschuh ist (Information zum Asyl-Verfahren nur über Vormund, Krankenhausaufenthalt erforderte Unterschriften, Zuständigkeiten beim bevorstehenden Schulwechsel).

Vormundschaft für Pflegeeltern

Ich rufe bei der Caritas an und spreche über das Thema „Vormundschaft für Pflege-Eltern.“ Die Frau an der Vermittlung meint, dass das sicher mit der Vormündin selbst zu besprechen wäre. Außerdem wäre auch das Familiengericht zuständig. Mein nächster Anruf ist beim Familiengericht Hochstadt. Die zuständige Dame gibt gerne Auskunft. Es wäre sicher gut und kein Problem bei entsprechender Sachkompetenz und wenn die zuständige Sozialpädagogin beim Jugendamt eine entsprechende Stellungnahme schreibt, dann gäbe es kein Hindernis dafür. Nächster Anruf beim Jugendamt: Es würden dann die 399 Euro pro Jahr an uns überwiesen werden würden. Hamza hätte dann einen ehrenamtlichen Vormund und keinen Vereinsvormund. Das wäre auf jeden Fall auch von der gesetzlichen Seite her zu bevorzugen.

Dann rief Frau Faber, Hamzas Vormund, an. Sie war nun die Einzige, die etwas einzuwenden hatte. Es wäre doch gut, wenn jemand wie sie Vormund wäre, der den Sachverstand hätte und das Netzwerk im Hintergrund. Da kann ich nicht an mich halten: Ich plaudere ihr einige Fortbildungen und meine gesamte Expertise ins Ohr, die Betreuung der äthiopischen Oromo-Flüchtlinge in Hof am Schollenteich-Heim in den 90er Jahren, meinen ältesten Sohn Hannes mit seinem umfangreichen Hintergrund zum Thema, meine Fortbildungen in Alexandersbad und an der Regierung von Unterfranken… kurz: Ich spreche sie platt. Das tut mir zwar nachher leid, aber ich kann mir einfach von ihrer Argumentation her nicht vorstellen, dass sie geeigneter wäre als mein Mann und ich.

Am nächsten Tag spricht mein Mann Paul mit Frau Leusenink vom Jugendamt, auch die kann sich durchaus vorstellen, dass wir beide die Vormundschaft für Hamza übernehmen.

Mittwoch, 11. Mai 2016: Hamza ist mit mir am Montag mit dem Fahrrad in die Schule gefahren. Auf dem Heimweg verletzt er sich bei einem Sturz. Heute in der Pause ist er beim Fußballspiel noch einmal auf das Knie gefallen, das großflächig aufgeschrammt ist und überhaupt nicht gut aussieht.

Ziad war heute nicht beim Zusatzdeutschkurs in der Mittelschule. Es wäre sein letzter Tag dort gewesen. Im Gymnasium hat er nun einen neuen Stundenplan für die letzten neun Wochen mit einiger „Zeit zum Lernen“. Es wird ihm zugetraut, dass er selbstständig arbeitet und das hat er auch heute Morgen getan. Vokabellisten übersetzen und einiges andere.

Als ich heute von der Schulleiterdienstbesprechung komme, schläft Hamza. Ich wecke ihn und er schleicht in die Küche und macht seine Hausaufgaben in Mathematik. Es ist kein einfaches Thema: Halbschriftliches Teilen, ziemlich umständlich. Paul und Lukas, mein Sohn, mühen sich mit ihm ab. Ich bin auch dabei, sage aber nichts. Hamza wird still und stiller. Paul sagt: „Du gehst heute nicht zum Schwimmen.“ Paul sagt das, wegen der Wunde am Knie. Hamza aber denkt, es wäre wegen seines langsamen Vorankommens bei den Hausaufgaben.

Der Schwimmkurs von der Wasserwacht für Flüchtlinge wird von uns als sehr wichtig angesehen. Hamza selbst mag ihn nicht. Wir ahnen, dass er durch die Schlauchboot-Überfahrt von der Türkei nach Griechenland psychisch angeknackst ist, aber wir möchten, dass er schwimmen lernt. Hamza: „Ich will nicht zu schwimmen. Ich sage das zu dir vorgestern und gestern und jetzt sagst du.“ Dann fängt er an zu weinen. Hamza weint! Das ist für uns kein bekanntes Verhalten von ihm. Sein Bruder Ziad kommt, als ich ihn hole, er meint aber auch, dass er nicht weiß, warum Hamza sich nicht beruhigen kann. Beim Abendessen geht es ihm langsam wieder besser. Als wir gemeinsam herumalbern wegen der Fahrradprüfung in der Schule, da lacht er auch schon wieder.

…zweite Mama…

Freitag, 13. Mai 2016: Heute haben Ziad und sogar auch Hamza länger mit ihrer Mutter telefoniert. Hamza hat davon erzählt, dass er mit dem Fahrrad gefahren ist. Die kleinen Schwestern in Damaskus quietschen „Irene, ischliebedisch“ ins Telefon und es wird viel gelacht. Aber es gibt auch nicht so gute Nachrichten, das Leben ist voller Probleme mit fehlendem Strom und Trinkwasser, mit ständigen Kontrollen von wechselnden Interessensgruppen, deren Ziele anscheinend keiner kennt.

Am Donnerstagabend habe ich noch einmal mit Ziad gesprochen, er meint, dass er kein Geld für seine Familie von uns annehmen kann und es geht der syrischen Familie nicht gut und es dauert alles so lange und er weiß nicht, wie er alles mit dem Familiennachzug richtig machen kann und viele Syrer verhalten sich in Deutschland so schlecht und über den Islam müssen die Deutschen falsch denken, es gibt so viele schlechte Muslime…

Es war ein sehr emotionales Gespräch, in dem er auch sagte, dass ich wirklich wie eine zweite Mama für ihn bin.

In der Schule hatte eine Kollegin – schon bevor Hamza in die Schule gekommen ist – zu mir gesagt, dass ich kein distanziertes und professionelles „Ich-bin-nicht-die-Mutter“-Verhalten aufrechterhalten werden können. Erst jetzt merke ich, wir schwer es für mich ist, meine Rolle zu definieren. Für mich war es in meinem Leben immer wichtig, über mein Verhalten in meiner Rolle nachzudenken und mich oft ganz bewusst so zu verhalten, dass es der allgemeinen Rollenerwartung entspricht. An Wendepunkten habe ich mich aber immer wieder so entschieden, dass ich ganz bewusst Handlungen und Entscheidungen setzte, die mit meiner Rolle nicht in Einklang zu bringen waren.

Samstag, 14. Mai 2016: Morgens mit Hamza und Blacky spazieren gehen. Einfach hier die Runde Richtung Nachbardorf laufen. Es ist sonnig, windig und kühl, aber angenehmes Wetter zum Laufen. Immer wieder ist es bemerkenswert, welche Gesprächsthemen aufkommen: Ich erzähle das Märchen „Hans im Glück“. Hamza reagiert wie viele Kinder dieses Märchen: „So ein dummer Mann, der Gold eintauscht bis es zu einem Stein wird, der dann in den Brunnen fällt.“ Für mich persönlich war die Geschichte lange ein großes Ärgernis. Sie hat mich mein Leben begleitet und änderte ihre Bedeutung über die Jahre hinweg.

Wir laufen an einer Wiese entlang, die noch nicht gemäht ist. Hamza: „Schau mal, Irene, wie auf dem Meer.“ Er macht eine Handbewegung wie Wellen. Der Wind fährt durch die Gräser. Hamza: „Das ist wie in 3D hier.“ Die Sonne scheint zwischen den Wolken durch. Beim Getreidefeld sprechen wir darüber, wie der Weizen wächst. Am Maisfeld grabe ich einen zehn Zentimeter langen Sämling mit Maiskorn aus, damit ich erklären kann, was „Mais“ bedeutet.

Popcorn. „Warum sagen die Deutschen Popcorn? Gibt es dafür kein Wort in der deutschen Sprache?“ Ich: „Gibt es ein Wort dafür in der arabischen Sprache?“ Hamza murmelt etwas Arabisches, überlegt und sagt dann „Buschar.“ (oder so ähnlich). Ich frage weiter: „Für Mais gibt es ein anderes arabisches Wort?“ Hamza sagt ein anderes arabisches Wort. „Aber das ist etwas Anderes als Popcorn. Das eine ist…“ (- Wiederholung des arabischen Wortes für Mais -) „…und das andere ist…“ Hamza stockt: „Irene, wie heißt das, ich habe vergessen…“ Ich: „Buschar, oder so ähnlich.“ Hamza „Ja!“ Wir lachen beide und ich frage nach, ob er mich testen wollte, oder ob er das Wort wirklich nicht mehr wusste. Er meinte: „Ich wusste es nicht mehr.“

Schon vor einigen Wochen haben wir am Küchentisch darüber gesprochen: Hamza und Ziad sollen bei uns immer arabisch miteinander sprechen. Ich möchte, dass beide die volle Zweisprachigkeit erhalten. Wenn sie mit uns reden, dann ist die deutsche Sprache dran. Auf keinen Fall sollen die Eltern feststellen, dass Hamza arabisch verlernt hätte, wenn sie ihn wiedersehen.

Erziehungsfragen

Pfingstsonntag, 16.5.16: Beim Abendessen: Mit Hamza habe ich Pfannkuchen gemacht. Er will kein Apfelmus dazu, langt aber mit gutem Appetit zu. Er hat schon zwei kleine Pfannkuchen gegessen. Jetzt habe ich ihm den dritten einfach auf den Teller gelegt und meine, dass er auch nur einen Halben essen kann. Paul meint: „Man kann Nutella draufstreichen.“

Beim Wort Nutella springt Hamza wie von der Nadel gestochen hoch und ist bei der Schublade mit der Schokoladencreme. Paul schaut erstaunt auf Hamzas Trick: Pfannkuchen teilen und die Rückseite auch noch mit Nutella bestreichen. Wenn man das noch einmal macht, dann bekommt man ziemliche Mengen von Schokocreme auf einen kleinen dicken Pfannkuchen. Doch nach ein paar Bissen ist Hamza dann wirklich satt. Er stochert im Pfannkuchen herum, Ziad schickt mahnende Blicke. In dieser Beziehung ist seine Erziehung sehr deutlich und energisch: Was auf dem Teller ist, wird auch gegessen. Auch die Zuteilung zum Hühnerfutter (für unsere zehn Hennen) ist kein Ersatz für einen leergegessenen Teller. Hamzas Augen wandern zwischen dem Pfannkuchen und den Blicken des Bruders hin und her. Ich weiß, wie unerbittlich Ziad ist. Ich finde seine Einstellung auch gut und möchte es auch unterstützen, dass er sich in die Erziehung von Hamza einbringt. Trotzdem tut mir der Kerl leid. Diesen Pfannkuchen hatte ich ihm auf den Teller geladen, also sollte ich ihn auch unterstützen. Schnell nehme ich meine Gabel und steche eines von den letzten beiden Stücken auf und stecke es mir in den Mund.

Hamza deutet mit seinem Zeigefinger mit schnellen Bewegungen auf das letzte Stück. Ich meine: „Langsam, langsam!“, weil mein Mund noch voll ist. Da beginnt Hamzas Zeigefinger seine Bewegung auf Zeitlupentempo zu verlangsamen. Doch er zeigt immer weiter auf das letzte Stück. Ich lache schallend los. Auch Paul und Lukas können sich nicht mehr halten. Nur Ziad hat noch nichts gemerkt. Paul erklärt ihm, was passiert ist. Als Ziad hört, was passiert ist, kann er auch mitlachen. So mag ich das. Erziehung konsequent, aber mit Humor. Wir genießen es, wenn wir gemeinsam beim Essen in eine Stimmung kommen, die uns allen guttut.

Erziehungsfragen: Von vielen Pflegefamilien weiß ich, dass es ein Problem ist, wenn ein Smartphone oder ein Handy oder Tablet beim Essen verwendet wird. Bei uns gibt es so ein Verbot nicht. Ich weiß nicht immer, ob das so richtig ist. Aber ich weiß, dass es oft vorkommt, dass wir einen Grund finden, in den Geräten etwas nachzusehen. Die syrischen Jungs sollen für ihre Eltern erreichbar bleiben. Strom gibt es nicht regelmäßig und die Internetverbindung auch nicht. Außerdem war es auch mit unseren Söhnen so, dass die besten Fragen und Gespräche am Küchentisch entstehen. Und dann sollten auch die Antworten räumlich naheliegen. Der Fragenkatalog hat sich mit der Familie erweitert:
Wo liegt Namibia?
Wie sieht Schwarzkümmel aus?
Wann war die letzte Eiszeit?
Wer bestimmt, was im deutschen Fernsehen gesendet wird?
Wie warm ist es jetzt in Damaskus?

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Kommentare (1)

  • Reiner Wehpunkt

    |

    Und wieder eine berührende Folge vom Ankerkind-Tagebuch, lebendig und offen geschrieben. Es ist sehr eindrucksvoll, mit welcher Umsicht, Feinfühligkeit und Klarheit die Pflegeeltern sich verhalten.

    Vor Jahren habe ich ehrenamtlich bei der Asylbewerberbetreuung einer Menschenrechtsorganisation mitgearbeitet. In dieser Zeit habe ich erfahren, wie komplex die Herausforderung ist, Menschen aus anderen Kulturen mit dem Wesen unserer Gesellschaft vertraut zu machen.

    Wenn ich mir den geistigen Zustand unserer Gesellschaft anschaue, frage ich mich, wie viele Mitglieder dieser funverblödeten Gemeinschaft wohl eine solche Aufgabe meistern könnten. Ein Prozent, zwei oder drei …?

    ‚Respekt‘ und ‘Hut ab’ vor Irene und Paul! Ich bin gespannt auf die nächsten Folgen.

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drin