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Transit Filmfest

„Betwixt and between“

Das Transit Filmfest feierte am Mittwoch im übervollen Ostentorkino mit dem Auftaktfilm „Sonne“ Eröffnung.

Zum Auftakt des Transit Filmfests war das Ostentor am Mittwoch überfüllt. Foto: as

„What’s up bitches?“ Nati, Bella und Yesmin sind gerade auf dem Weg zu einem muslimischen Zentrum. „Bald gibt es Kopftücher von uns“, kündigt eine der Teenagerinnen in die Kamera ihres Smartphones Fan-Merch an. Dann stehen sie am Mikro. Vor ihnen sitzen mehrere Muslima, das Kopftuch akkurat auf dem Kopf. Yesmins Vater hat den Auftritt organisiert. „That’s me in the corner“, stimmen die drei R.E.M.s Hit „Losing my religion“ an.

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Zu diesem Zeitpunkt sind wir bereits mitten in jenem Film, der das diesjährige Regensburger Transit Filmfest Mittwochabend eröffnet. Einst an der Uni als dem Lehrstuhl für Medienwissenschaft angekoppeltes Projekt, nahm das Heimspiel-Festival zehn Jahre lang einen festen Platz im Regensburger Kulturkalender ein. 2019 dann wollte das komplett ehrenamtlich tätige Team rund um die Leitung Chrissy Grundl einen durchaus mutigen Schritt wagen.

Videobotschaften und Grußworte zum Auftakt

Der Heimspielvorteil wurde aufgegeben. Unter neuem Namen sollten künftig mit neuem Konzept Cineasten-Herzen begeistert werden. Corona machte einen Strich durch die Rechnung. Und somit steht das Transit-Filmfest nach zwei Jahren Pandemie jedenfalls in diesem Punkt auf einer Stufe mit dem ebenfalls diese Woche eröffneten städtischen Christkindlmarkt auf dem Neupfarrplatz.

Und egal ob in der Kälte mit Knacker und Glühwein oder im gemütlichen Kinosessel mit Bier und Süßkram: Allerorten dürfte nicht zuletzt die Sehnsucht nach Normalität, nach dem früher Gewohnten und nach einem kleinen Stück Sicherheit mitschwingen. Das hat Oberbürgermeisterin Gertrud Maltz-Schwarzfischer bei der Eröffnung des Christkindlmarkts am Montag vor der Neupfarrkirche gesagt.

Ähnlich äußert sich das Stadtoberhaupt zwei Tage später im Ostentorkino – per Videobotschaft. Eine Einspielung kommt auch von der Regensburger Landtagsabgeordneten Kerstin Radler, deren Vorschlag dem Transit heuer einen unerwarteten Geldsegen des Digitalministeriums beschert hat. Persönlich gekommen ist Kulturreferent Wolfgang Dersch – ein herzliches Grußwort im Gepäck.

Zusätzliche Stühle und stehende Zuschauer

Das Ostentorkino ist voll, übervoll sogar. Sponsoren, Unterstützer und Ehrengäste brauchen Platz, ebenso die Inhaber von Dauerkarten und Gäste an der Abendkasse – am Ende werden noch einige Stühle zugestellt und nicht wenige Besucher des Premieren-Abends müssen stehen. Na ja, es gibt sicher Schlimmeres zum Auftakt eines Internationalen Filmfests, das sich ein auf den ersten Blick nicht unbedingt griffiges Motto auf die Fahnen geschrieben hat.

Die Welt ist unübersehbar im Wandel. Für diese Feststellung braucht es keinen Weihnachtsmarkt und auch kein Filmfestival. Doch anders als der Budenzauber, inklusive klebriger Finger und senfbefleckter Mäntel, will das Transit-Team nichts überdecken, nicht allein auf möglichst positive Stimmungen der Besucherinnen und Besucher abzielen. Das Filmfest will im ersten richtigen Jahr als Transit Dinge offenlegen, Fragen stellen und Realitäten diskutieren.

„Alte und gegebene Wahrheiten überdenken“

Über 50 Filme in gerade einmal einer Woche werden im Ostentorkino, in der Filmgalerie im Leeren Beutel und im Andreasstadl bis zum 30. November gezeigt. „50 Perspektiven auf unsere Welt“, sagt Tobias Emmerling vom Festivalteam bei der Eröffnung. 50 Geschichten etwa über die Zerrissenheit zwischen Ost und West, in Form philippinischer Metaaction oder einem historischen Drama aus Kenia. Ein „Spiegel des Gestern, Heute und Morgen“, um „alte und gegebene Wahrheiten zu überdenken“, so Emmerling.

„Lasst uns ehrlich sein“, heißt es im Programmheft. Die Welt sehe derzeit nicht rosig aus. Ehrlich ist auch der Eröffnungsfilm „Sonne“. Das Erstlingswerk der kurdisch-österreichischen Regisseurin Kurdwin Ayub macht den R.E.M.-Hit aus dem Jahr 1991 zum thematischen Grundrauschen, das sich die gesamten 87 Minuten auf mehreren Ebenen durchzieht.

Die Protagonistin Yesmin ist in Österreich als Kind kurdischer Eltern geboren, die einst aus dem Irak geflohen sind. Viele solcher Hintergrundinformationen eröffnen sich den Zuschauern erst mit der Zeit und dann auch eher beiläufig als unaufdringliches, aber nicht unwichtiges Beiwerk der eigentlichen Szene. So auch, dass Bella – Schauspielerin Law Wallner wird im Laufe des Festivals selbst zu Gast sein – eine „Halb-Jugo“ ist. Schließlich müsse es doch egal sein, woher jemand kommt und ob Yesmin ein Kopftuch trägt. So äußert sich Nati dann in einer TV-Show.

Coming of Age mit Kopftuch und TikTok

Die ersten Szenen des Films sind bereits in der dann immer wieder genutzten TikTok-Optik. Jener App, die bei Jugendlichen heute kaum noch wegzudenken ist. Die drei Freundinnen kleiden sich in Hijabs von Yesmins Mutter und filmen sich dann dabei wie sie – unterlegt von verschiedenen Filtern der Social Media-App – „Losing my Religion“ trällern.

Bald wird das Kopftuch Zwietracht unter den Freundinnen verursachen. Yesmin als Muslima muss mit anhören, wie Nati als „Ösi“ in der TV-Show über ihre eigene Kultur spricht. Später, bei einem Treffen mit zwei jungen kurdischen Männern, ist es erneut Nati, die Yesmins durchaus emanzipatorische Haltung in Frage stellt, nur um den Jungs zu gefallen. Verkehrte Welt.

Das Kopftuch wird für Yesmin immer mehr zur Last. Dass das Video der drei – ohne Yesmins Zustimmung – zuvor im Internet viral geht und ein lokaler Hit wird, macht die Sache nicht besser. Yesmins Mutter sieht ihre Kultur beschämt. Der Vater hingegen ist begeistert und organisiert mehrere Auftritte, wie etwa im Muslimischen Zentrum. Während Nati und Bella später bei einem persischen Fest erneut mit Kopftuch auftreten wollen, verliert Yesmin immer mehr den Kontakt zu beiden und auch zu ihrem bisherigen „Ich“.

Passende Antwort auf die aktuellen Proteste im Iran

„Losing my Religion“, wörtlich übersetzt, das Verlieren der eigenen Religion, wird so zum Sinnbild von Yesmins Lage. „Losing my Religion“ sinngemäß übersetzt als „aus der Haut fahren“ oder „die Nase voll haben“, legt in diesem besonderen Coming-of-Age-Film die zahlreichen Schwellen und Zwischentöne offen, die das Erwachsenwerden in einer postmigrantischen Gesellschaft zwangsläufig mit sich bringen.

Denn auf der Suche nach der eigenen Identität sowie in der Auseinandersetzung mit der Familie und deren kulturellem Hintergrund, wird Yesmin dann eben doch auch immer wieder damit konfrontiert, wo sie denn eigentlich herkomme. „Ich bin in Österreich geboren“, antwortet sie einmal einer Mitschülerin. Dass die letzte Filmsequenz dann Yesmins offenes Haar im Wind flatternd zeigt, ist eine – wenn auch ungewollt – passende Antwort auf die aktuellen Proteste im Iran, wo zuletzt vor allem auf die kurdischen Gebiete verheerende Angriffe gestartet wurden.

Ein Griff aus dem Alltag einer modernen, westlichen Gesellschaft

„Sonne“ ist ein ungewohnt ehrlicher Film, nicht nur des Inhalts wegen. Schon von der ersten Szene an sorgt die derbe, von Beleidigungen und Kraftausdrücken geprägte Sprache der drei jungen Frauen ein ums andere Mal für Lacher beim Publikum. Die unerwarteten Einschnitte von Social Media Videos sorgen immer wieder für Brüche in der Erzählung, fügen gleichzeitig aber wichtige Handlungsstränge ein.

Es ist eine hemmungslose Nähe, mit denen die Regisseurin ihren Protagonistinnen begegnet. Ayub gewährt so einen direkten Blick in den Alltag der heutigen Jugend, der unverstellt und authentisch wirkt. Keine hochglanzpolierten Bilder, keine gestellt wirkenden Dialoge, keine Hochpoesie. Ein Griff aus dem Alltag einer modernen, westlichen Gesellschaft, in der sich der Mensch zurecht finden muss.

Schwellenzustände auf der Leinwand

Der Eröffnungsfilm passt dabei bestens in das diesjährige Festival-Thema und macht Lust auf mehr. Unter dem Motto „It’s a liminal world“ will das Transit-Filmfest aus unterschiedlichen Blickwinkeln und in drei verschiedenen Kategorien aufzeigen, in welchen Schwellenzuständen sich die Welt heute befinde. Dabei greift man auf den Begriff der Liminalität des Ethnologen Victor Turner zurück.

Während der liminalen Phase – Turner machte diese unter anderem an Hand von Initiationsriten archaischer Gesellschaften oder Revolutionen industrialisierter und moderner Gesellschaften fest – befinden sich die Individuen in einem mehrdeutigen Zustand. Das Klassifikationssystem der Sozialstruktur wird aufgehoben. Die Individuen besitzen weder Eigenschaften ihres vorherigen Zustandes noch welche des zukünftigen – sie sind „betwixt and between“, sind weder das eine noch das andere.

In einem solchen Schwellenzustand sieht das Transit-Team momentan auch die gesamte Welt. Mit ihrer Filmauswahl wollen sie einen kleinen Teil zu bestehenden Debatten beitragen und Gedankenstöße bieten.

In welche Richtung kann sich die Gesellschaft angesichts des Angriffskrieges in der Ukraine, der immer drastischeren Klimakrise und und den vielen anderen Herausforderungen bewegen, die das Gewohnte immer intensiver in Frage stellen. In welcher Welt wollen wir leben? Und wie gestalten wir den Transit dorthin? Eine Woche lang bietet das Filmfestival dafür reichlich Nährboden.


Hier geht es zur Homepage vom Transit Filmfest.

Hier geht es zum Youtube-Kanal.


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Kommentare (2)

  • Silvia Gross

    |

    Danke für diesen Artikel. Er trifft den Eröffnungsabend, seine Themen, die Atmosphäre und den eindringlichen Film “Sonne” gut. Film ab!

  • Beeindruckter

    |

    Sehr guter Artikel. Eigentlich möchte ich ein bischen für das Filmfest werben, aber wozu, die Kinos sind immer gut gefüllt bis randvoll.

    Alle Filme, die ich besucht habe (bis jetzt – viele werden Folgen), waren horizonterweiternd, haben zum Nachdenken angeregt, Einblicke in bislang unbekannte Welten gegeben und waren jedes für sich Kunstwerke.

    Die Regisseure verstehen ihren Job. Man darf bewundern, was entsteht, wenn Filme ohne Blick auf mögliche spätere Einnahmen geschaffen werden. Schaut euch das Programm an und lasst euch drauf ein, dieses Filmfest ist ein großes Geschenk an Regensburg. Die 45 EUR für die Dauerkarte kein Geld im Vergleich zu dem, was geboten wird.

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