Entdecke Veranstaltungen in Regensburg Alle Kultur Oekologie Soziales Kino

Statt sechs Monaten Haft, fünf Jahre Psychiatrie?

Dr. Doris Simon: „Wahnhafte Umdeutung der Realität durch den Gutachter.“ Fotos: AignerWas treibt eine 65jährige dazu, Kundenzählungen in einem Supermarkt durchzuführen? Dort Selbstversuche mit einem Einkaufswagen vorzunehmen und schließlich Flugblätter zu verteilen, in denen sie die Regensburger Justiz und einen Gutachter anprangert? Ich treffen die Politikwissenschaftlerin Dr. Doris Simon auf dem Parkplatz vor besagtem Supermarkt, wo sie gerade Flugblätter verteilt. Und was sich zunächst etwas skurril anhört, entpuppt sich als Geschichte, die doch gewisse Zweifel an Gerichten und Gutachtern weckt. Es geht um die 54jährige Ilona H., Sozialpädagogin und Initiatorin der „Wilde Weiber Werkstatt“. Seit über zwei Jahren setzt sich Doris Simon für diese Frau ein. Recherchiert, wälzt Gerichtsakten, sitzt mit dem Anwalt von Ilona H. zusammen. Die 54jährigen Sozialpädagogin gehört zu den Menschen, die keine Lobby haben: Hartz IV-Empfängerin, vorbestraft. Da interessiert es kaum jemanden, wenn sie erneut vor Gericht steht und erneut verurteilt wird.

Am Anfang: Ein Nachbarschaftsstreit

Eine seit fast zehn Jahren schwelende, immer wieder vor Gericht ausgetragene Auseinandersetzung zwischen Ilona H. und ihrer 15 Jahre älteren ehemaligen Wohnungsnachbarin Brigitte B. (Name geändert) hat mittlerweile dazu geführt, dass Ilona H. auf Weisung des Gerichts in der Psychatrie in Taufkirchen sitzt und dort möglicherweise für die nächsten fünf Jahre bleiben und medikamentös behandelt werden soll. Auf Basis von Gerichtsurteilen, die Doris Simon als „unglaublich“ bezeichnet und auf Basis eines psychologischen Gutachtens, gegen dessen Verfasser die Politikwissenschaftlerin jetzt Anzeige erstatten will. Was ist eigentlich passiert? Zwei Mal, im Mai 2004 und im Januar 2005, soll Ilona H. in einem Supermarkt mit einem Einkaufswagen Brigitte B. „gerammt“ haben. Ein Arzt attestierte Brigitte B. Verletzungen im Lendenbereich. Die Sache landete vor Gericht. Zeugen für den Vorfall in dem viel frequentierten Supermarkt (Doris Simon hat mehrere Zählungen durchgeführt.) gibt es keine. Das hindert den Gutachter, der die Einweisung von Ilona H. in die Psychatrie empfohlen hat, aber offenbar nicht daran, schriftlich zu behaupten, dass in beiden Fällen „neutrale Zeugen“ zugegen gewesen seien. Das Gericht beruft sich ebensowenig auf Zeugen, wie Brigitte B. selbst. Wie der Gutachter zu seiner Aussage kommt, ist nicht nachvollziehbar. „Diese Schlamperei zieht sich durch das gesamte Gutachten. Ich frage mich, ob er die Gerichtsakten überhaupt gelesen hat“, ärgert sich Doris Simon.

Fehler im Gutachten

Für fragwürdig hält die Politikwissenschaftlerin generell die Behauptung, dass die vom Arzt attestierten Verletzungen durch einen Einkaufswagen entstanden sein könnten. Im Supermarkt, am Tatort Milchreisregal, hat Doris Simon mehrere Selbstversuche unternommen. Ergebnis: Ein Einkaufswagen ist mit einer Höhe von 85 Zentimetern zu niedrig, um eine Verletzung im Lendenbereich zu verursachen. „Vor Gericht hat auch ein TÜV-Sachverständiger bestätigt, dass man damit das Gesäß und nicht die Lende trifft“, sagt Doris Simon. Der Arzt von Brigitte B. attestierte seinerzeit eine „schmerzhafte Kontusion im Lendenbereich“. Kein Grund für das Gericht, Zweifel an der Schuld von Ilona H. zu hegen. Gesäß oder Lende – einerlei. Sie wurde zu sechs Monaten Haft verurteilt. Die Berufungsverhandlung lässt derzeit auf sich warten.

“Vernichtungswille” der Nachbarin

Ilona H. leugnet die Tat. Wartet auf ihren Berufungsprozess. Der Gutachter sieht darin eine „wahnhafte Umdeutung der Situation“. Statt Haft folgte also die Psychatrie. Für einen „begrenzeten Zeitraum“. Mittlerweile sind es sieben Monate. Es könnten bis zu fünf Jahre werden. Eine neuerliche „Begutachtung“ steht an. Die Glaubwürdigkeit von Brigitte B. indessen scheinen weder das Gericht noch der Gutachter in Frage zu stellen. Mit Flugblättern gegen Justiz und Gutachter: Doris Simon.Die, Brigitte B., rief in einer Gerichtsverhandlung mit Blick auf Ilona H.: „Die muss weg!“ Diesem Wunsch (Doris Simon nennt es „Vernichtungswille“.) scheinen sowohl das Gericht als auch der Gutachter zu entsprechen. Ende Juni soll eine Entscheidung darüber fallen, ob Ilona H. für fünf Jahre in der Psychatrie verschwindet. Dann ist sie erst einmal „weg“. Doris Simon verteilt weiter ihre Flugblätter. „Eine wahnhafte Umwandlung der Sachlage nimmt der Gutachter vor“, steht darauf.
Print Friendly, PDF & Email

SUPPORT

Ist dir unabhängiger Journalismus etwas wert?

Dann unterstütze unsere Arbeit!
Einmalig oder mit einer regelmäßigen Spende!

Per PayPal:
Per Überweisung oder Dauerauftrag:

 

Verein zur Förderung der Meinungs- und Informationsvielfalt e.V.
IBAN: DE14 7509 0000 0000 0633 63
BIC: GENODEF1R01

Kommentare (4)

  • Rainer Guggenberger

    |

    Als Lebensgefährte von Frau Ilona H. muß ich sagen das mich dieses ganze Verfahren an der Rechtsprechung in diesem Land verzweifeln läßt. Und selbst wenn sie diese Taten begangen hätte, sehe ich nicht die Notwendigkeit hier mit dem großen Hammer draufzuhauen.
    Unterbringung in der geschlossenen Forensik auf unbestimmte Zeit ( mittlerweile sind es ja schon anderthalb Jahre ). Wo bitte bleibt die Verhältnismäßigkeit von Tat und Strafe?
    Sicher ist nur, in der Forensik wird Ilona ganz
    systematisch kaputtgemacht!!!!!!!!!!

  • Frankenstein

    |

    In Bayern herrscht eine Justiz- und Gutachterwillkür. Ich habe den Fall Ilona H. beim Lesen über dem Fall Mollath erfahren. Was ist das für eine Gesellschaft in Bayern? Das ist ja gruselig. Also zum Oktoberfest in München werde ich bestimmt nicht mehr fahren.

  • Angelika Oetken

    |

    Guten Tag,

    ein Tipp: wer sich für Frau H. und damit auch für alle Menschen einsetzt, die nicht über die Mittel verfügen, sich gegen übergriffige Seilschaften zu wehren, der darf ruhig mal gucken, wer die entsprechende Forensik trägt und ob alle Plätze immer belegt sind.
    Und mit welchem Klientel.

    Aus Sicht eines Trägers ist es nämlich vorteilhaft, möglichst viele Frau H.s einsitzen zu haben und möglichst wenig Hochleistungskriminelle.

    Abgesehen davon, dass die, sofern es ihnen gelingt, einen entsprechenden sozialen Status zu erreichen sowieso ganz woanders sitzen.

    Prinzip: “man-kennt-sich”.

    Von Herrn Schlötterer in seinem Buch anschaulich beschrieben und hier vorgestellt: http://www.regensburg-digital.de/%E2%80%9Emacht-und-missbrauch%E2%80%9C-%E2%80%93-spate-abrechnung-eines-ehemaligen-ministerialbeamten/04032010/

    P.S. Die Regensburger haben vielleicht durch die Medien von der Aufdeckung der systematischen Menschenrechtsverletzungen an Kindern und Jugendlichen erfahren, die von Seiten der “Haasenburg GmbH” begangen wurden.
    Auf der Homepage der Haasenburger gibt es nicht mal Angaben darüber, aus welchen Personen diese Trägergesellschaft besteht.
    Insofern wünsche ich Ihnen, liebe Regensburger, dass es möglichst wenig solcher dreisten Verschleierungen im Falle von Frau H. gibt.

  • Nina Hagen und die zweite Mollath | Regensburg Digital

    |

    […] Fall, den Rechtsanwalt Adam Ahmed als „noch krasser als Mollath“ bezeichnet und über den Regensburg Digital erstmals 2008 berichtete, hat am Dienstag eine entscheidende Wendung genommen: Nach mehr als sieben Jahren in der […]

Kommentare sind deaktiviert

drin