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Interview

Das Ende der Legende vom ehrenwerten Herrn Boll?

 

„Täter  Helfer  Trittbrettfahrer“ ist der Titel einer Buchreihe, die seit 2010 von dem Sozialwissenschaftler Wolfgang Proske herausgegeben wird, und in der sich verschiedene Autoren mit NS-Biografien befassen. Kürzlich ist der 14. Band mit Schwerpunkt Oberpfalz erschienen, in dem unser Autor Robert Werner mit den Legenden um einen der meist dekorierten Bürger Regensburgs aufräumt: den früheren Museumsdirektor, Kulturdezernenten, Stadtarchivar und NS-Karrieristen Walter Boll. Wir haben uns mit dem Autor Robert Werner über die Rolle Bolls, die aufwändigen Recherchen und die bislang ungenügende Aufarbeitung von Bolls Rolle in Regensburg unterhalten.

Walter Boll 1970 mit der Büste, die ihm zu Ehren im Historischen Museum aufgestellt wurde – und dort bis heute steht. Foto: Stadt Regensburg

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Stefan Aigner: Als ich in Regensburg zum ersten Mal den Namen Walter Boll gehört habe, wurde mit viel Wohlwollen und Anerkennung über diesen Mann gesprochen. Von seiner Rolle als Museumsdirektor und vom „Retter der Altstadt“ war vor allem die Rede. Was sagst du zu dieser Wahrnehmung?

Robert Werner: Das habe ich auch so gehört. Das ist die gängige öffentliche Version, die in Regensburg kursiert. Und das liegt daran, dass es eine sehr starke Fraktion in der Stadt gibt, die Boll in diese Position gehoben hat und zum Teil immer noch hebt. Aber der historische Befund ist ein anderer.

Wie würdest du die Person Walter Boll und seine Karriere im NS-Regime in aller Kürze beschreiben?

Boll kam 1928 als 28jähriger Konservator nach Regensburg, passte sich den damaligen politischen Verhältnissen an und trat zunächst in die regierende Bayerische Volkspartei (BVP) ein. 1933 wurde er Mitglied der SA, 1935 trat er in NSDAP ein, von Nazi-Oberbürgermeister Otto Schottenheim wurde er 1934 zum Museumsdirektor befördert.

Dann machte er als Museumsdirektor und Kreiskulturwart der NSDAP Karriere. Er war der Manager und Gestalter der Feierlichkeiten zur Bruckner-Feier. Er hat den Historischen Reichssaal für die Unterbringung von Adolf Hitler umgebaut. Er erledigte prominente Aufgaben und stieg immer weiter auf. Walter Boll wusste, wie man sich anpasst, um vorwärts zu kommen.

Es gibt wenig Hinterlassenschaften, in denen er sich zur NS-Ideologie bekennt, aber er hat zielstrebig und effizient für das System gearbeitet. Im Nachhinein hat er dann entweder darüber geschwiegen oder es so umgedeutet, als habe er im Dienste der Stadt und der Denkmalpflege gehandelt.

Aber woher kommt diese Geschichte vom „Retter der Altstadt“ und woher kommen all die positiven Zuschreibungen?

Ich habe mich hauptsächlich mit Bolls Rolle während der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt. Insofern kann ich dazu nur eingeschränkt etwas sagen. Es zeigt sich, dass ihm die Rettung von Altstadthäusern auch für die NS-Zeit zugeschrieben wird. Doch tatsächlich war es so, dass er auch in diesem Bereich immer im Einvernehmen mit der nationalsozialistischen Stadtführung gehandelt hat.

Ein strammer NS-Karrierist: Walter Boll um 1941. Quelle: Stadt Regensburg

Da gibt es zum Beispiel die Geschichte, der zufolge Boll das Haus Heuport vor dem Abbruch gerettet hätte. In Wahrheit hat er dieses Gebäude im Einklang mit OB Schottenheim hergerichtet, unter anderem um mehr Fremdenverkehr nach Regensburg zu holen. Das war ein zentrales Projekt in der Nazi-Zeit. Das ist der historische Hintergrund dieser Legende.

Du hast von einer starken Fraktion gesprochen, die die positive Wahrnehmung Bolls in Regensburg hochhält. Wer ist diese starke Fraktion?

Das sind zum Teil Verlautbarungen der Stadt oder des städtischen Museums selbst. Dann gibt es etwa einen Artikel im Regensburger Almanach (2008) von einem gewissen Stefan Reichmann, der Boll eine “staatsfeindliche Haltung und politische Unzuverlässigkeit” gegenüber dem NS-Regime andichtet und ihm sogar Verdienste für den Titel Weltkulturerbe zuschreibt. Reichmann beruft sich dabei auf die dritte Ehefrau von Walter Boll und hat ansonsten keine archivalischen Quellen zu bieten. Aber es gab auch Journalisten, zum Beispiel den vor einigen Jahren verstorbenen und sehr verdienstvollen Günter Schießl, der Boll als Instanz und als Retter der Altstadt verehrt hat.

Basieren solche Erzählungen und Fehleinschätzung auf böser Absicht oder ist es mangelnde Kenntnis?

Dass Boll als Retter der Altstadt gilt, rührt sicher auch daher, dass es natürlich auch Objekte gab, für deren Erhalt der Denkmalschützer Boll sich erfolgreich stark gemacht hatte. Es gab aber auch welche, die ihn überhaupt nicht interessiert haben und die er hat abräumen lassen. Der (mittlerweile emeritierte) Regensburger Architekturprofessor Wolfgang Schöller hat diese Thematik bereits 2010 für die Nachkriegszeit untersucht.

Abgesehen davon würde ich sagen, dass diese verklärenden Legenden um ihn eine Mischung aus geglückter Propaganda und mangelnder Aufarbeitung sind. Ich dürfte der erste gewesen sein, der sich die Spruchkammerakten zum Entnazifizierungsverfahren von Walter Boll und andere Archivalien angeschaut und darauf aufbauend sich mit seiner NS-Karriere beschäftigt hat.

Welche Funktionen übte Walter Boll in Regensburg aus?

1928 gab es eine Ausschreibung der Stadt Regensburg, bei der ein Konservator der städtischen Sammlungen gesucht wurde. Aus der ging Walter Boll als Gewinner hervor – unter 27 Leuten, die zum Teil besser qualifiziert waren, darunter Hildebrand Gurlitt. Bolls Auftrag war es, aus den Sammlungen des Historischen Vereins und des Ulrichs-Museums ein neues Zentralmuseum aufzubauen. Das verzögerte sich bis Anfang 1933, unter der nationalsozialistischen Stadtführung entstand dann das Ostmarkmuseum, das aber nach Kriegsbeginn 1939 nicht mehr fertiggestellt und eröffnet wurde.

Nach dem Krieg, nachdem Boll 1948 wieder in Amt und Würden kam, wurde er bald Kulturdezernent, blieb bis zu seiner Pension 1968 auch Leiter des Stadtarchivs und war bis zu seinem Lebensende 1985 Heimatpfleger der Stadt Regensburg. Wie kaum ein anderer hat Boll Regensburg gestaltet und repräsentiert.

Walter Boll ist doch auch Ehrenbürger von Regensburg…

Es gibt wohl keinen Regensburger, der mit so vielen städtischen Auszeichnungen bedacht wurde wie Herr Boll. Er ist Ehrenbürger, Träger der Bürgermedaille in Gold, der Albertus-Magnus-Medaille sowie des Bayerischen Verdienstordens und des Großen Bundesverdienstkreuzes. Ihm wurde der Kulturpreis verliehen und er erhielt ein städtisches Ehrenbegräbnis.

Walter Boll bei der Verleihung der Ehrenbürgerwürde durch Oberbürgermeister Friedrich Viehbacher. Foto: Stadt Regensburg

Im Historischen Museum wurde ihm zu Lebzeiten (1970) eine Büste gewidmet. Gibt es außer Walter Boll in Regensburg noch jemanden, dem so eine Ehre zuteilgeworden ist?

Nein. So etwas gibt es eigentlich eh nur in vordemokratischen oder autoritären Systemen. Der Bronzekopf war seinerzeit auch umstritten und wurde beispielsweise von der Zeitung Regensburger Woche verspottet. Gewisse Freunde Bolls haben damals 15.000 D-Mark gespendet und sein Nachfolger Wolfgang Pfeiffer hat sich dafür hergegeben, die Büste aufzustellen.

Ein honoriger Bürger Regensburgs also. Jemand, der durchweg positiv wahrgenommen wurde. Du hast in den vergangenen Jahren schon mehrere Texte zu Boll bei regensburg-digital veröffentlicht. Ist dir während deiner Recherchen jemand aufgefallen, der Boll schon früher kritisch bewertet hat?

Eine Abhandlung zu Boll ist mir nicht bekannt. Es gibt bei Helmut Halter (Autor des Standardwerks „Stadt unterm Hakenkreuz“, Anm. d. Red.) Hinweise auf Bolls NS-Engagement. Aber als Halter Mitte 1980 mit seinem Standardwerk angefangen hat, lebte Boll ja noch. Erst nach seinem Tod wurden die einschlägigen Akten „wieder aufgefunden“, wie es hieß, oder waren erst später in staatlichen Archiven zugänglich. Kurzgefasst: Ende der 1980er hatten Historiker oder Journalisten, die sich mit Boll beschäftigen wollten, sehr schwierige Bedingungen. Die Akten waren, sofern sie überhaupt noch da waren, kaum verzeichnet. Und später hat niemand dazu gearbeitet, auch die auf Boll folgenden Leitungen des Historischen Museums nicht.

Warum? War das Ganze einfach zu lange her?

Zu lange her, würde ich nicht sagen. Aber man macht sich kaum beliebt, wenn man zu Walter Bolls Nazivergangenheit forscht. Es gibt Unterstützer, Nutznießer und Freunde Bolls, denen das nicht passt. Gegen den legendären Direktor Ehrenbürger Walter Boll – so wird er in der Mittelbayerischen Zeitung gerne angesprochen – anzuschreiben, ist freilich schwieriger, wie gegen eine nicht gerühmte Person, wie zum Beispiel Nazi-OB Otto Schottenheim.

Die erste kleine öffentliche Diskussion über Walter Boll gab es nach meiner Erinnerung 2010, als Stadtrat Eberhard Dünninger (2015 verstorben) und mit ihm die ÖDP vorschlugen, einen Platz nach ihm zu benennen. Damals gab es Widerspruch von SPD und Grünen wegen Bolls Rolle in der NS-Zeit. Bereits zwei Jahre zuvor war versprochen worden, das Ganze aufzuarbeiten. Aber passiert ist offenbar nie etwas.

Na ja, CSU-Oberbürgermeister Hans Schaidinger verzögerte das Ganze mit dem Einwand, dass es schon eine bedeutsame Straße brauche, die man zu Ehrung Bolls nach ihm benennen sollte. Eberhard Dünninger war ein schlagendes Beispiel für jene Fraktion, die die verklärende Legende über Boll ungeprüft hochgehalten hat. Die Legenden gehen zum Teil so weit, dass ihm sogar mehr Positives zugeschrieben wurde, als er selbst behauptet hatte. ÖDP-Stadtrat Joachim Graf erklärte 2010 beispielsweise, dass Boll vielen Juden das Leben gerettet habe.

Aber das war ja offenbar auch beim Historischen Verein so, oder? Dort war Boll meines Wissens Ehrenvorsitzender und stand lange außerhalb jeder Kritik.

Gab sich nach dem Krieg als Widerständler: Walter Boll. Foto: Stadt Regensburg, Bilddokumentation.

Als der Historischen Verein sich 1933 freiwillig gleichschaltete wurde Boll entsprechend der NS-Gleichschaltungsregularien zum „Führer“ des Vereins ernannt. In der ersten Chronik des Historischen Vereins von 1955 wurde Bolls Führerschaft allerdings verheimlicht, auch, dass jüdische Mitglieder vom Verein ausgeschlossen wurden.

Man hatte offenbar ein Interesse, Boll in Schutz zu nehmen und ihm eher eine positive Bilanz zuzuschreiben; zum Beispiel, dass er das Historische Museum aus dem Boden gestampft hätte. Das ist falsch, weil es schon vorher eine Museumsstruktur gab. Es gab das Ulrichsmuseum in Regensburg, das Boll mitsamt dem Bestand des Historischen Vereins übernommen hat und fast Eins-zu-Eins ins jetzige Historische Museum transportiert hat. Darauf baut das Historische Museum bis heute auf.

Ist der Historische Verein eine Ausnahme?

Nein, ein weiteres Beispiel ist der Kunst- und Gewerbeverein. Dort war Boll in der Nazizeit zweiter Vorsitzender. Es gibt eine Festschrift zum 175. Jubiläum des Vereins (2013), in der der Journalist Ulrich Kelber erstmals thematisiert, dass Boll zusammen dem Nazi Gustav Bosse (damals 1. Vorstand, Anm. d. R.) 1936 die Ausstellung Entartete Kunst nach Regensburg geholt hat.

Es ist gut, dass in der Festschrift Bolls Anteil endlich zur Sprache gekommen ist, aber leider ist das nur ein kleiner Abschnitt. Meines Erachtens hat der Kunst- und Gewerbeverein noch einiges nachzuholen bei der Aufarbeitung seiner Nazi-Vergangenheit – insbesondere, was Bosses und Bolls nationalsozialistische Kunst- und Kulturpolitik betrifft. Wie der Historische hat sich auch der Kunst-und Gewerbeverein gut in das NS-Regime eingefügt und aktiv Juden und Jüdinnen ausgeschlossen.

Was war der Ausgangspunkt oder der Anlass deiner Recherchen?

Das waren die Recherchen der Kollegin Waltraud Bierwirth zu den sog. “Arisierungen” von Immobilien jüdischer Besitzer in Regensburg. Sie hatte nicht lockergelassen, bis sie Zugang zu den Akten im städtischen Denkmalamt bekommen hat und das war ein Markstein in der Forschung und öffentlichen Diskussion. Waltraud Bierwirth hat die Rolle von Walter Boll bei den Arisierungsverfahren als Erste öffentlich angeprangert.

Was war das Problem mit den Akten im Denkmalamt?

Das Problem war und ist, dass Walter Boll von 1928 bis 1965 auch Leiter des Stadtarchivs war. Diese Position hat er genutzt, um ganze Aktenbestände im Stadtarchiv zu säubern. Seine Personalakte besteht aus nichtssagenden Blättern. Es gibt keine Hinweise auf sein Engagement im NS-Regime und in der SA, keine Unterlagen zum Entnazifizierungsverfahren. Und keinen Vermerk, dass er von den Amerikanern sieben Monate inhaftiert wurde, weil er im Fragebogen seine NS-Führungsfunktionen verschwiegen hatte. Der amtliche Schriftverkehr des Stadtarchivs aus dieser Zeit ist komplett weg. Die Recherchewege im Stadtarchiv laufen also ins Leere.

Doch Bolls Säuberungen reichten offenbar nicht bis zu den Bestandsakten des Denkmalpflegeamts. Dort gibt zu jedem denkmalgeschützten Haus den entsprechenden Schriftverkehr und hier findet sich zum Beispiel ein Gutachten, in dem Boll dringend fordert, dass ein Anwesen jüdische Besitzer “endlich in arischen Besitz übergeleitet“ werde.

In einem der letzten Artikel von dir wurde das vermutlich erste Foto veröffentlicht, das Walter Boll in seiner NS-Uniform zeigt. Wie bist du, angesichts der gesäuberten Archive, auf dieses Bild gestoßen?

Meines Wissens gibt es ein ähnliches Foto, auf dem er aber kaum erkennbar ist. Das von dir angesprochene Foto war bislang nicht bekannt. Es handelt sich um ein bisher nicht reproduziertes Negativ in der städtischen Bildstelle. Ein städtischer Fotograf, Stefan Effenhauser, hat es entdeckt, nachdem ich den Zeitpunkt seiner Aufnahme genau eingrenzen konnte.

Walter Boll mit Offiziersdolch (rechts im Bild), 1942 im Foyer Ostmarkmuseum anlässlich der Übergabe des Stadtmodells ans Museum. Foto: Bilddokumentation Stadt Regensburg

Du hast nun einen längeren Aufsatz für das Buch „Täter, Helfer, Trittbrettfahrer“ geschrieben, dessen Druck der Kreis und die Stadt Regensburg unterstützt. Es scheint Interesse von verschiedenen Seiten da zu sein, die Causa Walter Boll aufzuarbeiten. Was hat sich geändert? Woher kommt dieses Interesse?

Schwer zu sagen. Die ersten drei Artikel von 2019 haben zumindest dazu geführt, dass die Stadt Regensburg verkündet hat, das Thema untersuchen zu wollen und einen Auftrag an die Universität zu vergeben. Doch das Vorhaben, eine Magisterarbeit zu erstellen, hat sich aber leider zerschlagen.

Dass Boll und die Gründungsgeschichte des Historischen Museums untersucht werden muss, ist ja bereits in dem 2018 veröffentlichten Gutachten – von der Stadt in Auftrag gegeben – zur Regensburger Erinnerungskultur formuliert. Diese Forschungslücke besteht nach wie vor.

Ich habe meine Recherchen zu Boll 2021 wiederaufgenommen, weil ich für die Reihe „Täter, Helfer, Trittbrettfahrer“ angefragt wurde.

Doch das ist eine private Initiative, oder?

Ja, das basiert auf dem herausragenden Engagement des Sozialwissenschaftlers Wolfgang Proske. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, unerforschte NS-Biografien an interessierte Autoren zu vergeben und diese im Kugelbergverlag zu veröffentlichen – in mittlerweile 14 Bänden.

Die Stadt selber hat meines Wissens bis auf den Versuch, eine Magisterarbeit zu vergeben, nichts unternommen. Dem Vernehmen nach, soll es aber im Herbst eine Bestandsaufnahme zu Walter Boll geben.

Du hast vorher schon erwähnt, dass Boll an “Arisierungen” mitgewirkt hat. Wie sieht es mit geraubter Kunst in den städtischen Museen aus oder damit, dass er sich selbst Kunstwerke angeeignet hätte?

Es gibt die Vermutung, dass Boll sich selbst bereichert hat, aber belegt ist das bisher nicht. Jedenfalls ist bekannt, dass Boll von den Nazis verfemte Kunst persönlich gesammelt hatte, die erst 2011 versteigert wurde. Darunter waren Werke von Putz, Nolde, Jäckel, Corinth und Pechstein. Hochdotierte Kunstgegenstände. Woher Boll diese hatte, ist nicht bekannt.

Im Depot des Historischen Museums der Stadt liegen nach eigenen Angaben dutzende Bilder, Wert- und Kunstgegenstände, Schmuck und “Judensilber”, Gegenstände die unter Boll angekauft oder ergaunert wurden. Die Provenienz dieser Sachen zu klären, wird seit 2017 versucht, was aber offenbar kaum gelingt. 

Wie lange hast du insgesamt zu Walter Boll recherchiert?

Ende 2017 habe ich mit den Entnazifizierungsakten im Staatsarchiv in Amberg grundsätzliche Zusammenhängen klären können. So konnte ich vermeintlich unverfängliche Akten, die es im städtischen Bestand oder im Institut für Zeitgeschichte noch gibt, einordnen und 2019 die Artikelserie für regensburg-ditigal schreiben. Die umfangreichen Akten im Bayerischen Hauptstaatsarchiv in München zur Museumsgründung und zur Bruckner-Feier, bei der Boll ja führend beteiligt war, habe ich Ende 2021 und heuer eigesehen. Auch jetzt, bald fünf Jahre nach Beginn meiner Recherchen, begreife ich meine Arbeit nach wie vor als Zwischenbilanz, auf deren Basis man weitermachen kann und sollte.

Warum ist es für die Stadt Regensburg wichtig, die Rolle von Walter Boll aufzuarbeiten?

Boll hat das jetzige Historische Museum 1948 eröffnet und gestaltet. Dasselbe Museum, in dem eine Büste von ihm steht und wo ihm nach wie vor unkritisch gehuldigt wird.

Die NS-Zeit, die Entstehung des Museums, Bolls Rolle dabei – all das wurde bislang nicht untersucht. Einem Musemsdirektor zu huldigen, ohne die historischen Zusammenhänge herausgearbeitet zu haben, ist zumindest fahrlässig und beschämend. Mit dieser Vorgehensweise wird das Historisches Museum seinem Bildungsauftrag nicht gerecht.

Welche Interessen vermutest du dahinter, wenn die Rolle von Boll bis heute geschönt wird?

Die Büste von Walter Boll im Treppenhaus des Historischen Museums Regensburg. Foto. R.W.

Bei Stefan Reichmann würde ich Absicht unterstellen. Seine Motivation und sein Interesse sind mir aber nicht bekannt. Bei städtischen Ämtern und Amtsträgern könnte man es damit erklären, dass es einfach zu unbequem ist, sich mit wohlklingende Legenden auseinanderzusetzen. Also vermeidet man das Thema und hält lieber an der ahistorischen Legende fest, dass Regensburg eine katholische Hochburg gewesen sei, in der die Nazis einen schlechten Stand hatten.

Laut BR-Berichten wurden etwa vom früheren Kulturreferenten Klemens Unger und von ehemaligen Oberbürgermeister Hans Schaidinger verbreitet, dass Adolf Hitler bei seinem Besuch in Regensburg ein Kronleuchter vor die Füße gefallen sei und er dann nie wieder nach hierher zurückgekommen sei.

Das sind selbstgefällige Geschichten, die einen gewissen Eindruck erwecken sollen, aber entweder mit der historischen Wahrheit nichts zu tun haben oder eh irrelevant sind. Sie lenken davon ab, wer den Hitler-Besuch in Regensburg organisiert hat: Walter Boll. Dass unter Boll der Historische Reichssaal und die Kurfürstenzimmer eigens für Hitler umgebaut wurden. Dass der Stadt dieser Besuch so wichtig war, dass sie sich dafür verschuldete. Und anstatt den Besuchern im Alten Rathaus die historischen Zusammenhänge zu präsentieren, verbreitet man Anekdoten von irgendwelchen herunter gefallenen Kronleuchtern.

Was erwartest du dir für Reaktionen auf deine aktuelle Recherche?

Gemischte. Bei Leuten, die sich stark machen für die historische Aufarbeitung des Historischen Vereins, des Museums, des Kunst- und Gewerbevereins und der Person Walter Boll hoffe ich auf Unterstützung und Anerkennung. Auch innerhalb dieser Vereine – dort gab es ja einen Generationenwechsel.

Diejenigen, die Boll bis heute legendenartig hochgehalten haben, werden wohl eher gegenteilig reagieren.

Die Leitung des von Boll mitgegründeten Kunstforum Ostdeutsche Galerie sollte sich endlich offen seiner Gründungsgeschichte und den von ihr verwahrten Objekten zweifelhafter Provenienz stellen. Von der jetzigen Leitung des Historischen Museums erhoffe ich mir, dass sie sich endlich der Sache annimmt und aktiv anfängt, die eigene Geschichte kritisch zu thematisieren. Das ist längst überfällig.

 

Das Buch ist erhältlich im Buchhandel oder beim Verlag für 23,99€.

Wolfgang Proske (Hg.): NS-Belastete aus der Oberpfalz, Kugelbergverlag 2022. ISBN 978-3-945893-23-4.

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Kommentare (11)

  • Spartacus

    |

    Das ist 100% Regensburg.

  • Hthik

    |

    Ich hatte soviel Ahnung, wie wohl die meisten: keine. Mit dem Namen Boll habe ich Kämpfer für den Erhalt des Regensburger kulturellen Erbes assoziiert. Etwa bei der damaligen Debatte um die Stadthalle am Donaumarkt. Jetzt habe ich ein bisschen Ahnung, die sich nicht gut anfühlt. Aber historische Wahrheit muss historische Wahrheit bleiben.

  • R.G.

    |

    Es bleibt den ganzen Artikel lang unklar, wer wen interviewt.
    Befragt Werner Proske oder Proske Werner oder Aigner einen der beiden?
    Es wäre nett, wenn sie das mit einem Satz erklären wollten.

  • Redaktion

    |

    Oh, sorry. Das Interview führte Stefan Aigner mit dem Autor Robert Werner, siehe Nachtrag.

  • xy

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    Was gibt es da noch ständig weiter “aufzuarbeiten”? Boll war Nazi, wie Millionen andere, die nach dem 3. Reich weitergelebt und sich und ihre Familien weiter ernährt haben. Das ist gar nichts Besonderes, mit dem man sein Leben ausfüllen und sich Jahrzente abarbeiten sollte. Boll war kein schlimmer Nazi, kein Marinerichter, kein KZ -Scherge, und kein Judenhasser, Er war ein Nazi, wie wir mit einiger Sicherheit alle Nazis gewesen wären, wenn wir studiert gehabt hätten und eine Karriere beabsichtigt hätten, die ohne die Partei nicht möglich war, ein Karrierist eben, aber doch bitte keiner von der ganz üblen, menschenhassenden und brutalen Sorte,Das wissen wir jetzt seit vielen Jahren. Ich wußte nicht, was es da noch ad calendas graecas weiteren Dreck aufzuräumen gäbe.

  • Hthik

    |

    @xy 17. September 2022 um 04:23 | #

    “Ich wußte nicht,…”

    Ich nehme an, dass hier der Konjunktiv “wüßte” beabsichtigt ist, aber erstaunlicherweise stimmt es so sogar besser. Böses Blog macht nicht nur Verwaltungsbashing sondern jetzt sogar noch Nazibashing. Unglaublich dieser Mangel an vornehmer Zurückhaltung! Ach Gott, mir schwinden die Sinne, man bringe mir mein Riechsalzfläschen.

    Der Punkt ist doch, das wir gerade durch die Recherche der unermüdlichen Recherchierer wissen. Dass wir jetzt wissen. Dass wegen derer, die selber nachsehen und wissen wollten, die die ganze Wahrheit wissen wollten, der Aufbau der Legende, an dem andere fleißig gebastelt haben, nicht funktioniert hat. Was noch herauskommen mag, das wissen wir nicht.

    “Er war ein Nazi, wie wir mit einiger Sicherheit alle Nazis gewesen wären, wenn wir studiert gehabt hätten und eine Karriere beabsichtigt hätten, die ohne die Partei nicht möglich war …”

    Nein. Ich widerspreche. Es ist mit Sicherheit nicht so, denn auch damals gab es Leute, die sich dem tatsächlich verweigert haben. Die auf eine Karriere verzichtet haben, die Repressionen hinnehmen mussten. Und auch darum ist es nötig, sauber und vollständig zu ermitteln: um die Scheinriesen wie Boll von denen zu unterscheiden, die sich tatsächlich verweigert haben.

    Boll mag ein Fall wie viele andere gewesen sein, aber auch darum ist, einen Fall wie Boll zu verstehen, wichtig: Damit wir verstehen, wie das Verbrechersystem die “menschlich, allzu menschlichen”* Eigenschaften der “gewöhnlichen Leute” für seinen Aufstieg genutzt hat. Und damit wir wissen, wie diese sich später wieder, oft fast nahtlos, in Amt und Würden entfalten konnten.

    *ausnahmsweise mal Nietzsche

  • Lenzerl

    |

    Ein in meinen Augen wirklich gutes Hintergrundgespräch zu der dringend notwendigen Aufarbeitung und den Recherchen zu Walter Boll. Sachlich und informativ legt der Text den Finger in eine schwärende Wunde. Was mir aufstößt – neben der offenbar immer noch andauernden Verzögerungstaktik der Stadt – ist die nicht sachlich begründete, unterschwellige Kritik an einem “gewissen Stefan Reichmann”. Diese Formulierung finde ich unangemessen, weil sie Stefan Reichmann unbekannte Motive der Huldigung gg. Walter Boll unterstellt (wie es ja später im Text auch heißt). Das unterstützt m.E. die Fraktionenbildung statt der journalistischen und wissenschaftlichen Recherche und Aufarbeitung, die ich bei Robert Werner sonst sehr schätze. Ich bitte um Stellungnahme und Interview mit Stefan Reichmann!

  • Heinrich Mayer

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    Danke für das sehr informative Interview!
    H.Mayer

  • Hthik

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    @Lenzerl 18. September 2022 um 10:43

    “… ist die nicht sachlich begründete, unterschwellige Kritik an einem “gewissen Stefan Reichmann”. Diese Formulierung finde ich unangemessen, weil sie Stefan Reichmann unbekannte Motive der Huldigung gg. Walter Boll unterstellt (wie es ja später im Text auch heißt).”

    Dass sie im Interview nicht weiter sachlich begründet wird, stimmt. Unterschwellig ist sie aber wegen des “wie es ja später im Text auch heißt” aber nicht, sondern ein offener Angriff. Dass ich von RD erwarte, dass sie jedem Angegriffenen auch die Möglichkeit zur Stellungnahme geben, halte ich für selbstverständlich und daher nicht erwähnenswert. Im Übrigen ist das presserechtlich, wenn auch in eher schmalem Umfang, garantiert.

  • R.G.

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    Der Gesichtsausdruck der Büste scheint mir eine Beschreibung zu verlangen.
    Ziemlich geschlossene Augen und die Nase so hoch wie bei der Stellung “Habacht”!

  • Ulrich Mors

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    Das Interview reiht sich ein in die derzeit anhaltende kritische Untersuchung von Personen, die in der NS-Zeit und in der Nachkriegszeit erfolgreich in Regensburg wirkten und fortdauernd geehrt wurden. Der kritische Blick gilt dabei immer fast ausschliesslich den Jahren 1933-1945 und der Mitgliedschaft in NS-Organisationen. Dieser Beitrag unterscheidet sich etwas, da er versucht, sich vorerst vorsichtig auf quellenhafte Dokumente zu stützen und dabei zurückhaltend formuliert. Die wichtigste und belastende Aussage gegen Boll ist der begründete Verdacht über Vernichtung von Dokumenten. Mangelhaft fehlend ist aber auch die Einbeziehung des Entnazifizierungsverfahrens. Es erfolgte zeitnah, mit strenger und konsequenter Sicht sowie unter Einbeziehung von Zeugen. Es entschied auch verbindlich über weiteres Wirken in öffentlichen Ämtern. Dies wird heute vielfach ignoriert ebenso wie der unerlässliche Bedarf an Fachkräften für Wiederaufbau und Neubau. Erstaunlich ist die Kontinuität bei Wirken und Anerkennung. Sie nährt nicht den Eindruck von zeitbedingter Einstellung sondern von Anpassung an sie. Folgt man dieser Linie, wäre nur konkret nach Verbrechen und Unrecht gemessen an unseren heutigen Wertvorstellungen zu fragen. Beachtenswert ist die fortdauernde Wertschätzung in der Nachkriegszeit, deren Bevölkerung man nur mit Beweis eine Verdrängung oder Fortdauer der NS-Ideologie vorwerfen darf. Auch Realismus ist bei Forschung angebracht. Besonderer und anhaltender Erfolg gründet immer auf Anpassung und Nutzung von Strömungen. Das in Regensburg besonders erhaltene Erbe der Deutschen Geschichte und Kultur war dem NS-System ein grosses Anliegen von Förderung und Propaganda. Bei dessen heute anhaltender Wertschätzung gebietet sich daher eine besondere Verpflichtung zu Objektivität, Einbeziehung aller Momente und vor allem Enthaltung von Löschung.

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