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Gesprächsrunde

Vergessene Opfer eines rassistischen Attentats

Vor sechs Jahren tötete ein 19-Jähriger in München neun Menschen aus rassistischen und rechtsextremen Motiven. Doch bis heute taucht das OEZ-Attentat in den Aufzählungen rechter Gewalttaten oft nicht auf. Am morgigen Dienstag beschäftigen sich Experten und die Angehörige eines Ermordeten bei einer Gesprächsrunde in Regensburg mit dem Fall.

Neun Menschen kamen am 22. Juli 2016 vor dem Olympia Einkaufszentrum in München ums Leben. Bald verbreiteten sich in der ganzen Stadt Chaos und Panik. Zeitweise war von drei Tätern die Rede. Foto: bm

Es ist der 7. Dezember 2017, als William A. die High School von Aztec, New Mexico (USA), betritt. In seinem Rucksack führt er eine Pistole der Marke Glock mit sich sowie mehrere geladene Magazine. Wie die Polizei später verlautbaren wird, habe der 21-Jährige, getrieben von rassistischem, nationalsozialistische Gedankengut, ein „möglichst großes Blutbad“ an der Schule anrichten wollen. Am Ende wird es drei Tote geben. Die beiden 17-jährigen hispanoamerikanischen Opfer und den Attentäter, der sich selbst erschießt.

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Münchner Rechtsterrorist war Mitglied im „Anti-Refugee Club“

Der glühende Trump-Anhänger hatte sich nicht zuletzt online radikalisiert. Anfang 2016 soll er auf einer Online-Plattform zusammen mit anderen Nutzern ein Diskussionsforum namens „Anti-Refugee Club“ angelegt haben. Inhalt des Forums waren etwa Vernichtungsfantasien gegen „Nicht-Arier“, Juden und Geflüchtete. In der Gruppe wurde über Waffen und Massenmord kommuniziert. Und insbesondere auch die Stilisierung von rechtsextremen Hassverbrechen betrieben.

Als der „Anti-Refugee Club“ Ende September 2017 vom Plattform-Betreiber als sogenannte „hate group“ deaktiviert wurde, soll er circa 770 Mitglieder gehabt haben. Darunter war zeitweise auch der Münchener David S. Mit ihm soll William A. direkt in Kontakt gestanden sein. In einem Nachruf feierte A. den 19-jährigen Münchener mit einer Art Ahnengalerie und nahm sich David S. offenbar direkt als Vorbild für seine eigene Tat.

Vorbild: Anders Breivik

Es ist der 22. Juli 2016 – exakt fünf Jahre nach dem der Rechtsterrorist Anders Breivik in Norwegen 77 Menschen ermordet hatte. David S. hat dieses Datum für seine Tat ganz bewusst gewählt. Ebenso wie Breivik trägt S. eine Glock-Pistole mit mehreren hundert Schuss Munition bei sich. Im Bereich des Olympia-Einkaufszentrums wird er an diesem Tag neun Menschen töten. Aus rassistischen, rechtsextremen Beweggründen.

Die 14-jährigen Armela Segashi und Sabina Sulaj sowie Can Leyla. Die 15-jährigen Selçuk Kılıç und Janos Roberto Rafael. Der 17-jährige Hüseyin Dayıcık. Der 19-jährige Giuliano Josef Kollmann und der ein Jahr ältere Dijamant „Dimo“ Zabërgja. Sowie die 45-jährige Sevda Dağ.

Gekannt haben sie David S. nicht. Dennoch wählte er seine Opfer nicht zufällig aus. Dass fast alle einen deutschen Pass hatten, Guiliano Kollmann in Deutschland als Sohn einer Sinti-Familie geboren wurde, dürfte für den Attentäter keine Rolle gespielt haben. Er soll seine Opfer auf Grund ihres äußeren Erscheinungsbildes, ihrer realen oder vermeintlichen Migrationsgeschichte ausgewählt haben.

Erste These: Amoklauf wegen Mobbing

In einschlägigen Foren wurde das OEZ-Attentat schnell als rassistische Tat gefeiert. William A. nannte den Attentäter einen „guten Typ“, weil er ausschließlich Migranten getötet habe. David S. werde einmal als „Held“, als „wahrer Arier“ und „wahrer Deutscher“ geehrt werden – sobald die AfD oder andere rechte Gruppen an der Macht wären.

In der breiten Öffentlichkeit hingegen verfing eine andere Erzählung. Von einem Amoklauf sprachen die Ermittlungsbehörden schon kurz nach der Tat. Der Täter sei gemobbt worden, habe sich dafür rächen wollen. „Auch in den letzten Jahren noch haben vereinzelt Medien von einem Amoklauf geschrieben“, sagt Vinzent Leitgeb. Er ist Journalist der Süddeutschen Zeitung. Hat zusammen mit zwei Kolleginnen anlässlich des fünften Jahrestages im vergangenen Jahr den sechsteiligen Podcast „Terror am OEZ“ produziert.

„Wir wollten wissen, warum einer der schlimmsten Anschläge überhaupt in Deutschland einfach schlicht vergessen wird“, erklärt Leitgeb unserer Redaktion die Grundintention hinter dem Podcast. Der Mord an Walter Lübcke im Juni 2019. Der Anschlag in Halle wenige Monate später. Der rassistische Mord an neun Menschen in Hanau Anfang 2020. Drei Taten, die nach dem OEZ-Attentat stattgefunden haben und die sich mittlerweile ins kollektive Gedächtnis eingeprägt hätten, sagt Leitgeb. „Da ist Aufmerksamkeit auf dem Thema rechter Terror.“ Das OEZ-Attentat aber sei bei vielen noch heute fälschlicherweise als Amoklauf abgespeichert.

Psychisch Kranker statt rassistischer Terrorakt

Am 22. Juli 2016 war Leitgeb selbst in München, erlebte das Chaos, das sich kurz nach den Schüssen am OEZ in der ganzen Stadt ausbreitete. Es habe eine „sehr unübersichtliche Lage“ vorgeherrscht, „wahnsinnig schnell“ sei Panik aufgekommen. Überall seien Sirenen los gegangen. „Man hatte das Gefühl wir sind alle betroffen“, erinnert sich Leitgeb und betont: „Bei einem Attentat, das gezielt bestimmten Menschen gegolten hat.“ Von einem rechtsextremen, rassistischen Attentat war damals zunächst aber keine Rede.

„Als am nächsten Morgen von offizieller Seite die Entwarnung kam, dass kein Bezug zu internationalem Terror bestand, sondern es ein einzelner Amoktäter, ein psychisch Kranker gewesen sei, da gab es schon Erleichterung bei den Leuten.“ Es sei das Gefühl gewesen, das habe nichts mit einem selbst zu tun, das sich laut Leitgeb breit gemacht habe. Und so dominierten die je eigenen Geschichten vom Tattag, die selbst erlebten Emotionen der Münchnerinnen und Münchner.

Weil sie nicht in das rassistische Weltbild des Täters passten, mussten auch die beiden Sinti und Roma Guiliano Kollmann und Janos Rafael sterben. Foto: bm

Die Medien, so der Journalist kritisch gegenüber seinem eigene Berufsstand, hätten zu Beginn einige Fehler gemacht. „Wenn man im Nachgang die Daten analysierte, hat man gesehen, wie journalistische Quellen dazu beigetragen haben, Gerüchte zu schüren.“ So etwa als aus dem ganzen Stadtgebiet fälschlicherweise von mutmaßlich weiteren Schüssen und Tätern berichtet wurde. In den Tagen danach drehten sich die Schlagzeilen um den angeblichen Amokläufer. Wie falsch diese von den Ermittlern lange Zeit geprägte Erzählung sein sollte, stellte sich bald heraus, verfing aber im allgemeinen Kanon kaum noch.

Angehörige allein gelassen

Und auch die Opfer und deren Hinterbliebene fielen im Trubel von Beginn an hinten runter. „Das hat schon in der Nacht selbst begonnen“, erzählt Leitgeb. Für den Podcast haben er und seine Kollegen stundenlange Gespräche mit den Angehörigen geführt. „Viele haben uns erzählt, sie seien in den Stunden nach der Tat in einer Halle untergebracht gewesen.“ Ohne Betreuung hätten sie dort in der Ungewissheit ausgeharrt, wie es um ihre Kinder, Enkel, Geschwister oder, im Fall der 45-jährigen Dağ, um die eigene Mutter steht.

Die Familien der Opfer erheben bis heute schwere Vorwürfe, fühlten sich damals alleine gelassen. Stattdessen kam es vereinzelt zu Hausdurchsuchungen bei den unter Schock stehenden Familien der Opfer. Die Ermittler suchten nach möglichen Hinweisen für das Tatmotiv, gingen von einem Racheakt wegen Mobbing aus. Währenddessen bekamen Medien wie die SZ immer mehr Hintergrundinformationen zum Attentäter und dessen rechtsextremer Gesinnung.

Verfassungsschutz stufte Tat zunächst nicht als politisch motiviert ein

„Der Täter war mehrfach in der Psychiatrie, hatte dort Hakenkreuze an die Wand gemalt und sich gefreut, am selben Tag wie Hitler Geburtstag zu haben“, sagt Leitgeb. Immer mehr Medienhäuser hätten ihre Einschätzungen und Berichte nach und nach angepasst und revidiert. Die Erzählung vom Amokläufer kam mehr und mehr ins Wanken. Dennoch blieben die Hinterbliebene mit ihrer Trauer und ihrem Kampf um Anerkennung lange Zeit außen vor.

Die Ermittlungen zu dem Fall zogen sich über drei Jahre hin. Auch die Ermittlungsbehörden gingen bei David S. bald von einer rechtsextremen Gesinnung aus. Dennoch stufte der Bayerische Verfassungsschutz die Tat zunächst als nicht politisch motivierten Amoklauf ein. Hintergrund waren zwei Gutachten, die aber viele Zweifel hinterließen, ob die Tat damit ausreichend begründet werden kann.

In einer Reihe mit NSU und Oktoberfestattentat

Im Auftrag der Stadt München wurden drei weitere Gutachten erstellt, die unabhängig voneinander dann klar von einer rechten Tat sprachen. Im März 2018 beurteilte dann das Bundesjustizministerium die Tat neu als „rechtsextremistisch motiviert“. Im gleichen Zeitraum hatte das Münchner Landgericht im Prozess gegen einen Waffenhändler das OEZ-Attentat in eine Reihe mit anderen rechtsextremistischen Taten wie den NSU-Morden und dem Oktoberfestattentat eingestuft.

Fünf Jahre nach der Tat wurde die Inschrift der Gedenkstätte am OEZ geändert. Anstatt von einem Amoklauf, ist seitdem von einem rassistischen Attentat die Rede. Im Hintergrund nahm das Attentat seinen Ausgang. Foto: bm

Im Oktober 2019 dann kam das bayerische Landeskriminalamt abschließend zu der Einschätzung, es sei „gerechtfertigt, von einer politischen Motivation im Sinne des Definitionssystems PMK (politisch motivierte Kriminalität, Anm.d.Red.) zu sprechen“. Im Juni 2020, fast fünf Jahre nach der Ermordung von neun Münchnern, änderte die Stadt die Inschrift am Mahnmal ab. „In Erinnerung an alle Opfer des rassistischen Attentats vom 22.7.2016“ steht dort seitdem. Zuvor war von den Opfern eines „Amoklaufs“ die Rede.

Fehler bei der psychiatrischen Einschätzung

„Eigentlich ja schade, dass man da Jahre vergeudet hat, in denen man das falsch eingeordnet hat“, meint Leitgeb. Im Nachgang sei natürlich vieles klarer. So erscheine die Einschätzung eines psychiatrischen Gutachtens über David S. nach einem seiner Aufenthalte in der Psychiatrie heute als deutliche Fehleinschätzung. „Höchstens Eigengefährdung war damals die Einschätzung“, sagt Leitgeb.

Allerdings waren da wohl die Online-Netzwerke, in denen der spätere Attentäter eingebunden war kein Thema, sind die zunehmende Radikalisierung und das rechtsextreme Weltbild nicht ausreichend thematisiert worden. „Vielleicht kann man über diesen Fall verstehen lernen, wie gefährlich das ist und wie schwer es ist dagegen vorzugehen“, meint Leitgeb. Mittlerweile habe sich durch die zurückliegenden Taten viel getan. Die Bewertung von Rechtsextremismus habe sich in den Behörden verschoben und deren Blick geschärft.

Klarstellung kam für Angehörige zu spät

Für die Angehörigen komme das zu spät. Sie seien lange Zeit vergessen worden, mussten selbst für ein respektvolles Erinnern an ihre Angehörigen kämpfen. Für den Podcast haben Leitgeb und seine Kolleginnen rund acht Monate investiert. Zahlreiche Dokumente gesichtet und sich viel Zeit für die Familien genommen. Das sei das „Komplexeste und Emotionalste“ gewesen. „Wir haben da keine Fragen vorbereitet und wollten auch nicht einfach den Abend nacherzählt bekommen.“ Stattdessen hätten sie jeden so weit reden lassen, wie die Person das selbst wollte und konnte.

Gisela Kollmann, die Oma von Giuliano, fällt es bis heute schwer, mit dem Mord an ihrem Enkel umzugehen. 2021 trat sie erstmals im Rahmen der Gedenkfeier vor dem OEZ auf. Nahezu täglich gehe sie an das Grab ihres Enkels, sagte sie damals, sichtlich mit den Tränen kämpfend. Öffentliche Verkehrsmittel könne sie seit dem Attentat nicht mehr nutzen, laute Geräusche und große Menschenmengen machten ihr Angst. „Mir wurde ein Stück aus meinem Herzen herausgerissen, es ist ein tiefer Schmerz, der mir den Atem nimmt.“ Sie hätte gern mit ihrem Enkel getauscht.

Diesen Dienstagabend ist Kollmann in Regensburg zu Gast. Im Rahmen eines Podiumsgesprächs wird sie zusammen mit Vertretern von Beratungsstellen sowie dem Münchener Rechtsextremismusexperten Robert Andreasch die vergangenen sechs Jahre einordnen. Die Veranstaltung findet um 19 Uhr im Gewerkschaftshaus in der Richard-Wagner-Straße statt.

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Kommentare (3)

  • Bürni

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    Danke für diesen wichtigen Artikel! Interessierten Leserinnen und Lesern kann ich den Podcast „Terror am OEZ – fünf Jahre nach dem Anschlag in München“ empfehlen.

  • joey

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    Der Täter hatte selbst Migrationshintergrund – Iran, das Land der Arier. Er selbst war aber optisch nicht von anderen “Südländern” zu unterscheiden. So ist es eben: die Welt ist nicht schwarz oder weiß. Deswegen ist auch manche Rassismus Erklärung zu ungenau.

  • Jakob Friedl

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    Das Theaterstück “Kein Kläger” über blinde Flecken und NS-Kontinuitäten in der Justiz begann in der Gegenwart 2019 auf dem Parkdeck beim OEZ und dem Denkmal für die Opfer des rassistischen Anschlags – und endete auf dem Königsplatz, wo die Generalamnesie für Nazirichter thematisiert und deren Taten und Einfluss in der Nachkriegszeit vergegenwärtigt wurden. Die Kontinuitäten reichen bis in die jüngste Vergangenheit. Das Ausblenden des rassistischen Tatmotivs und der engen Vernetzung des Täters in neonazistischen Strukturen seitens der Ermittlungsbehörden stehen leider in einer langen Tradition, die endlich endgültig überwunden werden muss.
    https://investigativetheater.com/kein-klaeger/

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drin