„Volkstrauertag heute muss also auch bedeuten, den Blick über Deutschland hinaus zu weiten und aller Opfer ohne Ausnahme oder irgendeiner Klassifizierung zu gedenken.“ Diese Doktrin von Oberbürgermeister Hans Schaidinger stammt vom 14. November 2010, Volkstrauertag im Stadtpark beim Kriegerdenkmal „Unter den Linden“.
Ein Jahr später hat sich die Doktrin des Oberbürgermeisters – oder seines Redenschreibers – geändert.
Schaidinger steht wieder vor dem Ehrenmal. Wieder ist er umringt von Feuerwehrleuten, Trachtlern und Verbindungsstudenten, Politikern aus Kommune, Land und Bund, einem Jugendchor der Regensburger Domspatzen und der obligatorischen Abordnung bewaffneter Bundeswehrsoldaten.
Von Sonne und Fackeln wird das Denkmal beschienen. Blauer Himmel. Auch einige nichtuniformierte Bürgerinnen und Bürger sind gekommen und lauschen andächtig dem militärischem Zeremoniell, den Kirchenliedern und Friedensgedanken der Domspatzen und Schaidingers Rede.
Eine Rede im Geist der 50er
Der Oberbürgermeister verortet sich dieses Jahr in die Tradition der 50er Jahre. Auch wenn er zu Beginn wortwörtlich die offizielle Sprachregelung verwendet, derzufolge der Volkstrauertag „im Gedenken an die Kriegstoten und Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen“ begangen werde.
Von 1952, dem Jahr, in dem der Volkstrauertag in der Bundesrepublik wieder als offizieller Gedenktag eingeführt wurde, stammen sämtliche Zitate, die er verwendet.
Es geht zuvorderst um das Erinnern an jene, „die ihr kostbarstes Gut, ihr Leben, für die Heimat und das Volk hingegeben haben“, zitiert er aus einer 60 Jahre alten Mittelbayerischen Zeitung. Es geht um die Soldaten – von Bundeswehr und Wehrmacht. Ihnen widmet er den Großteil seiner Rede.
„Wehrmachtssoldaten sind Opfer“
Und wenn von den Opfern des Nationalsozialismus die Rede sei, dann werde dabei „allzu oft vergessen, dass dazu auch all jene Soldaten gehören, die gegen ihre Überzeugung in den Krieg ziehen mussten“, so Schaidinger mahnend. „Auch diese Menschen waren Opfer des Nationalsozialismus! Das dürfen wir nicht vergessen.“
Dabei blendet er die Verbrechen der Wehrmacht aus. Ignoriert, dass Wehrmachtssoldaten Täter im nationalsozialistischen Vernichtungskrieg waren.
„Können wir uns sicher sein, dass wir an ihrer Stelle anders gehandelt hätten, wenn wir Repressalien hätten fürchten müssen oder gar Angst hätten haben müssen um unser eigenes Leben?“, fragt Schaidinger.
Dass es auch solche Soldaten gab, die anders handelten, desertierten oder erst gar nicht in den Krieg zogen und dafür hingerichtet wurden, erwähnt er nicht.
Sie fallen zwar gewiss unter das offizielle Totengedenken des „Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge“, das am Ende jeder Zeremonie zum Volkstrauertag verlesen wird. Andere Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft erfahren aber in Regensburg größere Erwähnung.
Fragwürdiges Leichenzählen
Neben den Soldaten sind es die Vertriebenen „aus dem Sudetenland oder Schlesien, aber auch aus Ostpreußen oder Pommern“. Schaidinger spricht „rund 15 Millionen Menschen, die ihre Heimat verloren und (…) mehr als zwei Millionen, die bei Flucht und Vertreibung ihr Leben lassen mussten“.
Diese Zahlen sind nicht unumstritten. Wie viele Menschen bei Flucht und Vertreibung tatsächlich ums Leben kamen, ist nach wie vor ungeklärt. Renommierte Historiker beklagen eine „politische Instrumentalisierung“ der Vertreibungszahlen, insbesondere der 15 Millionen, durch den Bund der Vertriebenen.
So wie Schaidinger beide Zahlen nennt stimmen sie weder mit den Angaben des Bayerischen Familienministeriums noch des Statistischen Bundesamts überein, sind zu hoch. Nicht nur vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, was dieses „Leichenzählen“ soll – zumal Schaidinger dies nur ausgewählten „Opfergruppen“ zuteil werden lässt.
„Wir dürfen nicht müde werden, unseren Kindern und Enkelkindern zu vermitteln, wie wichtig es für ist für uns alle, diese Tradition des Erinnerns lebendig zu halten und dem Vergessen Einhalt zu gebieten“, sagt Schaidinger am Sonntag.
Er selbst hat an diesem Tag nicht nur vergessen, was er an selber Stelle vor noch einem Jahr gesagt hat.Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um Erinnerungskultur in Regensburg ist Schaidingers Rede glatter Hohn.