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Interview

Reset für das utopische Kino

Am Mittwoch beginnt in Regensburg das fünftätige Transit Filmfest mit dem Titel INTERMISSION_UTOPIA. Nachdem das Festival im vergangenen Jahr aufgrund der Corona-Pandemie nicht stattfinden konnte – beziehungsweise zum Teil online abgehalten wurde –, wagt der Veranstalter Hör & Schau e.V. vom 15. bis 19. September einen neuen Versuch im Ostentorkino und Andreasstadel. Wir haben Festivalleiterin Chrissy Grundl vorab interviewt.

Festivalleiterin Chrissy Grundl Foto: Privat

Das als Heimspiel bekannte Regensburger Festival heißt fortan Transit Filmfest. Wie kam es zu dem Namenswechsel und wie wirkt sich das auf die Ausrichtung des Festivals aus?


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Ich war als Studentin jahrelang im Heimspiel-Team und habe beim Festivalgründer Sascha Keilholz sehr viel gelernt. Ich hatte aber immer schon den Traum, irgendwann mit tollen Leuten ein eigenes Filmfestival auf die Beine zu stellen und ein paar Dinge anders zu machen. Den Namen „Heimspiel“ fand ich aus verschiedenen Gründen nicht optimal: Er wurde in einer Zeit gewählt, in der das Festival nur deutsche Produktionen gezeigt hat. Da das schon lange nicht mehr zutrifft, klingt das jetzt irgendwie unpassend und tümelig. Außerdem gibt es in Regensburg ja noch ein anderes „Heimspiel“-Festival (Alte Mälzerei, Anm. d. Red.), das sogar älter ist als unseres.

2019 nannten wir uns dann „Heimspiel im Transit“, um den Übergang ein bisschen smoother zu gestalten. Hinter dem Begriff „Transit“ steht für uns die Idee, Veränderung positiv zu konnotieren, Umbrüche und Instabilität zu feiern. Wenn man die Transformation als gesellschaftlichen „Zustand“ akzeptiert, hat man weniger Angst davor. Außerdem gibt so ein Ansatz einem als Festivalmacher*in einfach auch mehr Freiheit und Möglichkeit zu experimentieren
.

In Regensburg gibt es über das Jahr verteilt mehrere Filmfestivals. Wodurch zeichnet sich das Transit Filmfest besonders aus? Welchen grundsätzlichen Anspruch verfolgt Ihr mit Eurem Festival?


Einige unserer kuratorischen Grundsätze haben wir sicherlich noch der Heimspiel-Schule von Sascha Keilholz zu verdanken. An erster Stelle steht unsere ehrliche Begeisterung für die ausgewählten Filme – weit vor Premierenwünschen oder Zuschauer*innenzahlen. Durch die enge Anbindung an die Uni schwingt bei uns immer auch ein wissenschaftlicher Anspruch und ein Interesse an unterrepräsentierter Filmgeschichte mit. Vermutlich hat sich auch der eine oder anderen Genre-Twist durch Heimspiel in unsere Festival-DNA eingeschrieben.

Mit Transit fokussieren wir verstärkt auch politische Fragestellungen und wollen uns auch trauen, den in der westlichen Filmwissenschaft etablierten „Qualitätskanon“ zu verlassen. Uns interessieren junge Filmemacher*innen aus aller Welt und deren künstlerische Zugänge zu den Transformationsprozessen, die diese Welt aktuell gestalten. So ein Blick über den heilen mittelalterlichen Tellerrand schadet Regensburg bestimmt nicht.

Das Transit Filmfest im November 2020 musste nach wenigen Vorführungen der historischen Reihe (RETRO_UTOPIA) wegen Corona abgebrochen werden. Der Weekender konnte gar nicht stattfinden. Wie seid Ihr mit der Situation umgegangen? Wie kam es zu der Idee, das Filmfest 2021 einfach (fast) identisch nachzuholen? Gab es dabei Schwierigkeiten?


Das war natürlich ein ziemlicher Tiefschlag für uns alle. 2020 sollte ja die erste Transit-Ausgabe unter neuem Namen und neuer Ausrichtung stattfinden und wir hatten uns richtig reingehängt, den Skeptiker*innen zu zeigen, dass wir wirklich eine Vision haben, dass hinter Transit mehr steckt, als „Flüchtlingsfilme” und „DDR“. Die Onlineausgabe, die wir kurzfristig auf die Beine gestellt haben, war für uns immer nur eine Notfalllösung, weil die Filme aus unserem Programm nur im Kino funktionieren – ohne Ablenkung und als gemeinsames Erlebnis im Austausch mit anderen.

Viele unserer Filme haben keinen regulären Kinostart in Deutschland, andere sind untergegangen und unser diesjähriger Themenschwerpunkt Utopien/Dystopien hat sich nach wie vor als ausgesprochen passend für diese Zeit erwiesen. Deswegen haben wir uns entschieden, das Programm zu lassen, wie es ist: New Date, Same Timetable.

Die 5.000 Programmhefte mit unseren wunderbaren Filmtexten lagerten also ein Jahr in meiner Wohnung, wurden von uns mit Stickern und Stempeln versehen und in der Stadt verteilt. Die größte Schwierigkeit war wohl die Terminfindung. Die Kinobetreiber*innen hatten nach der langen Pause und den vielen Kinostarts in der Pipeline verständlicherweise erstmal keine Lust auf ein externes Festival. Dazu die ewige Unsicherheit und Abwägerei – wir wollten auf keinen Fall zu einem Gesundheitsrisiko werden, andererseits muss es ja irgendwann irgendwie weitergehen – auch für uns.

Die angebrochene RETRO_UTOPIA-Reihe vollenden wir übrigens einen Tag vor der Festivaleröffnung. Am 15. September zeigen wir im Ostentor Julie Dashs Daughters of the Dust, Ulrike Ottingers Bildnis einer Trinkerin und Jennie Livingstons Paris is Burning.


Siehst Du ein Risiko, dass die Corona-Pandemie auch diesmal Eure Pläne durchkreuzt? Welche Regeln gelten für die Vorführungen (3G, Masken etc.)? Wie viele Personen könn(t)en jeweils die Kinos (Ostentor und Wintergarten) besuchen?


Wir hoffen sehr, mit dem September einen guten Monat für das Festival erwischt zu haben. Zwischen und nach den Screenings kann man sich im Kinokneipen-Biergarten oder im Akademiesalon noch gut draußen aufhalten, im Kinosaal gilt die 3G-Regel, die wir auch streng kontrollieren. Theoretisch können wir so sowohl das Ostentorkino als auch den Wintergarten voll auslasten – dann aber mit (medizinischer) Maske am Platz. Beide Kinos haben zertifizierte Luftreiniger, die für eine virenfreie Raumluft im Kinosaal sorgen. Bei weniger stark besuchten Filmen können wir die Gruppen vor Ort so platzieren, dass die 1,5 Meter eingehalten werden, dann darf auch die Maske runter.

Das diesjährige Filmfest widmet sich inhaltlich der Utopie (und Dystopie). Wurden die Filme nach diesen Kriterien ausgesucht oder ergab sich der thematische Überbau erst beim Sichten beziehungsweise erst hinterher? Was ist aus filmischer Sicht spannend an der Utopie?


Dass es angesichts der sozialen und ökologischen Schieflage dieser Welt gegenwärtig Utopien braucht, tauchte bei unseren Themenbrainstormings (übrigens vor Corona) immer wieder auf. Tatsächlich gab es dann auf der Berlinale 2020 eine Initialzündung: Jóhann Jóhannssons Last and First Men hat uns so umgehauen, dass wir den Film zu unserem offiziellen Eröffnungsfilm erklärt und uns in der Sichtungsphase fortan auf utopische/dystopische Konzepte konzentriert haben.

Film und Utopie ist an sich schon eine naheliegende Kombi: Eigentlich sind fiktive (und auch dokumentarische) Filme immer auch Gedankenspiele. Aber vor allem ist das Kino der Ort für Utopien schlechthin. Ein irgendwie abstrakter, magischer, zeitloser Raum, der ausschließlich die Funktion besitzt, uns andere Welten und Möglichkeitsvisionen zu zeigen. Man muss sich bewusst dazu entscheiden, diesen Raum aufzusuchen und ist dort nicht alleine, sondern gemeinsam mit anderen. Kino ist auch ein sozialer Raum einer politischen Öffentlichkeit. 


Ganz allgemein: Welche Filme erwarten die Zuschauerinnen und Zuschauer beim diesjährigen Transit Filmfest? Gibt es im Programm Highlights, die besonders herausstechen und die man nicht verpassen sollte? Was sind Deine persönlichen Favoriten?


Unser Programm ist ästhetisch, inhaltlich und narrativ extrem vielfältig. Wir haben Doku-Fiktions-Hybride über „echte“ Orte, die wie fiktive Utopien/Dystopien daherkommen. Wir haben Filme mit Horror-, Trash- oder experimentellen Elementen im Programm und Filme von europäischen, afrikanischen und asiatischen Filmemacher*innen. Was alle Filme verbindet, ist die Liebe zum Kino als Ort für Gedankenexperimente und der Mut, ungewöhnliche filmische Wege zu gehen.

Besonders spannend sind natürlich die Filme, bei denen es im Anschluss ein Q&A mit den Filmemacher*innen geben wird. Am Freitag kommt die Giraffe-Regisseurin Anna Sofie Hartmann aus Dänemark, am Sonntag wird Tucké Royale, der Schauspieler und Drehbuchautor von Neubau anwesend sein und gleich danach wird der brasilianische Regisseur Affonso Uchôa über seinen Film Seven Years in May sprechen. Außerdem haben wir einige Zoom-Q&As im Anschluss an die Screenings.

Das Transit Filmfest möchte sich „inhaltlich solidarisch mit den vielen unterdrückten Stimmen zeigen und als Filmfestival dazu beitragen, bestehende Verhältnisse zum Besseren zu drehen“ (Programmheft). Wie kann ein Filmfestival überhaupt zur Verbesserung bestehender Verhältnisse beitragen? Ist das nicht utopisch?


Darüber, ob Kunst und Kultur im Allgemeinen und Kino und Filmfestivals im Speziellen einen Beitrag dazu leisten können, dass es in der Welt weniger ungerecht zugeht, lässt sich hervorragend diskutieren. Ich würde die Frage gerne zurückstellen, weil wir unter anderem darüber in der Podiumsdiskussion FORUM_UTOPIA mit Filmwissenschaftler*innen und Branchenvertreter*innen sprechen möchten. Besonders freuen wir uns auf Heide Schlüpmann, die Grande Dame der Kinophilosophie, die einst Schülerin bei Bloch und Adorno in Frankfurt war. Der Eintritt ist frei und wir hoffen auf viele Interessierte!


Zum Programm des Transit Filmfests
Zum Timetable (PDF)

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Kommentare (1)

  • Utopien in „nüchternen Zeiten“ » Regensburg Digital

    |

    […] Jóhan Jóhansson ist alles andere als ein gewöhnlicher Film. Wie Festivalleiterin Chrissy Grundl im Interview mit regensburg-digital vor ein paar Tagen sagte, habe sie das Werk „umgehauen“ und dafür gesorgt, dass man sich bei […]

Kommentare sind deaktiviert

drin