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Lesung von Max Czollek in Regensburg

Vorhang zu für deutsches Gedächtnistheater

Der Berliner Schriftsteller Max Czollek las am Dienstag in Regensburg aus seinem Buch „Desintegriert Euch!“. Er kritisiert in dem Werk das vorherrschende „Integrationsparadigma“, das „Gedächtnistheater“ sowie den erstarkenden Nationalismus in Deutschland. Aus einer jungen jüdischen Perspektive erläuterte er in der überfüllten Buchhandlung Dombrowsky, wie diese Aspekte zusammenwirken.

Vollbesetzte Buchhandlung Dombrowsky bei der Lesung von Max Czollek. Foto: om

„2006 verhielten sich die Menschen, als würden sie eine schwere Last abschütteln. ‚Endlich dürfen wir wieder‘, riefen sie und malten sich Flaggen ins Gesicht […]. In ihrem Ausruf ist schon alles enthalten. Wer endlich sagt, der ist erleichtert, dass er etwas wieder darf. Wer wiederum wieder sagt, der verweist in unserem Fall auf eine Zeit, in der das Deutschlandfahnenschwingen noch ohne komische Gefühle möglich war. Wann war das nochmal genau? Richtig, Nationalsozialismus. Und dann dieses dürfen, als hätte es jemand jemandem etwas verboten. Wer könnte das sein?“

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Zimperlich ist Max Czollek gewiss nicht, wenn er diese Worte liest. Zimperlich ist auch das „unsachliche Sachbuch“ nicht, aus dem er liest. Es heißt „Desintegriert Euch!“ und Czollek stellt es am Dienstagabend im Rahmen einer Lesung in Regensburg vor. Eingeladen wurde der 32-jährige jüdische Autor aus Berlin von der Katholischen Erwachsenenbildung in Kooperation mit Campus Asyl und der Buchhandlung Dombrowsky, in deren Räumen die Veranstaltung stattfindet.

Leitkultur, jüdisch-christliches Abendland und Heimatministerium

Ulrich Dombrowsky sei anfangs „ein bisschen skeptisch“ gewesen, nachdem die drei Czollek-Exemplare zwei Monate im Regal unberührt geblieben seien. Mit so vielen Leuten hätte er jedenfalls nicht gerechnet. Und es sind viele gekommen. Einige müssen auch aus Platzgründen an der Tür abgewiesen werden. Um ausbleibenden Absatz muss sich der Buchhändler, zumindest an diesem Abend, keine Sorgen machen.

In „Desintegriert Euch!“ setzt sich Czollek polemisch, witzig, ernst, kurzweilig, vor allem aber analytisch scharfsinnig insbesondere mit dem Konzept der „Integration“ auseinander, das er dekonstruieren, ja demolieren möchte. Es geht auch um andere Aspekte deutscher Ideologie und Gegenwart.

„Wenn ich Ihnen […] ‚Desintegriert Euch!‘ zurufe, dann will ich damit auch jenen positiven deutschen Nationalismus problematisieren, der sich hinter Konzepten wie deutscher Leitkultur, jüdisch-christlichem Abendland oder der Gründung eines Heimatministeriums verbirgt.“

„Skript mit dem Titel: Die guten Deutschen“

Man könnte auch sagen: Czollek rechnet ab. Was beispielsweise „die Juden“ angeht, so seien sie „Figuren auf der Bühne des deutschen Gedächtnistheaters“. Ein dem Soziologen Y. Michal Bodemann entlehnter Begriff, der „von der eingespielten Interaktion zwischen deutscher Gesellschaft und jüdischer Minderheit“ ausgehe.

„Die Judenrolle folgt dabei einem Skript, das den Titel ‚Die guten Deutschen‘ trägt. Denn das ist seit Jahrzehnten die Funktion der Juden in der Öffentlichkeit: die Wiedergutwerdung der Deutschen zu bestätigen.“

Eine pointierte Beschreibung des „Erinnerungsweltmeisters“ Deutschland, der sich als geläuterte und demütige Nation versteht und sich nach Anerkennung der geleisteten Vergangenheitsbewältigung sehnt. Nach dem Motto: Die Vernichtung von sechs Millionen europäischen Juden war schon schlimm, aber jetzt sind wir wieder gute Deutsche. Auch die Rede von der „Monumentalisierung der Schande“ gehört zu dieser Erinnerungsshow, um mit dem deutschen Waldkauz Martin Walser zu sprechen, dessen Bezeichnung des Berliner Holocaust-Denkmals Czollek explizit zitiert.

Von der WM zur AfD

Czollek ist der Ansicht, dass „die Deutschen ihre Verantwortung für die Vergangenheit gründlich missverstanden haben, als sie sich jahrzehntelang eine neue Normalität herbeiphantasierten“. Beginnend mit Richard von Weizsäckers Rede zum Kriegsende 1985, der von „Befreiung“ der Deutschen vom Nationalsozialismus sprach. Für Czollek ist das „offensichtlich unwahr“. Er muss leicht schmunzeln, als er liest:

„Denn die Mehrheit der Deutschen wurde am 8. Mai 1945 natürlich nicht befreit. Sie wurde endgültig besiegt, nachdem sie bis zum bitteren Ende und weit darüber hinaus die Naziherrschaft unterstützt hatte. Der Nationalsozialismus ist nun wahrlich eine echte Volksbewegung gewesen.“

Wieso rede von Weizsäcker eine Befreiung herbei, die für die meisten doch eine „krachende Niederlage” gewesen sei? Welche Funktion hat das?

Eine andere Volksbewegung der deutschen Normalität, wie weiter oben schon erwähnt, war die Fußballweltmeisterschaft 2006. Der Schriftsteller sieht „eine Verbindung zwischen der WM 2006 und dem AfD-Einzug in den Bundestag 2017“. Eine „heftige Belastungsprobe“ für die „Wiedergutwerdung der Deutschen“. Die Normalisierung des Nationalismus schreite voran. Für Nicht-Rechte sei das Gedächtnistheater hierbei die „Ermöglichungsbedingung“. Denn statt Nationalismus etwas entgegenzusetzen, werde „ungehemmt an einer positiven nationalen Identität gearbeitet“.

Czollek nennt unter anderem und ausdrücklich Sigmar Gabriel, Alexander Dobrindt und Horst Seehofer. Letzterer etwa verkenne, dass er nicht die Begriffe der Rechten besetze, sondern „rechte Positionen“ übernehme. Beispielhaft sei die Rede vom „christlich-jüdischen Abendland“. Für den Autor ein „strategischer Begriff“, der „verlogener nicht sein könnte“, wie er in der Diskussion im Anschluss an die halbstündige Lesung anmerkt.

„Mischcultur statt Integration“

Hier kommt auch Czolleks titelgebende Desintegration ins Spiel. Das Gedächtnistheater habe bestimmte Rollenerwartungen (nicht nur an Juden). Die „Dominanzkultur“ (hier die deutsche), womit „die Summe dominanter Vorstellungen und Praxen“ gemeint ist, denke den Akteuren bestimmte Rollen zu. Welche Rolle haben beispielsweise Muslime in einem „christlich-jüdischen“ Abendland? Eben.

Was schlägt Czollek vor? Es gehe „um die grundlegende Reflexion des Verhältnisses zwischen deutscher Dominanzkultur und ihren Minderheiten“. Desintegration. Die politisch völlig gängige und selbstverständliche Forderung nach Integration wirke stabilisierend auf die „Dominanzposition“. Vereinfacht: Es gibt ein Wir und ein Ihr; und Ihr habt euch zu integrieren! Ab wann sei man aber letztlich integriert? „Ab wann gilt man nicht mehr als Integrationsverweigerer, sondern als frustrierter Deutscher?“ Wenn man deutsch spreche? Oder die Hautfarbe wechsle? Wann genau?

Czollek möchte sich vom „Integrationsparadigma“ verabschieden und „weg von der Sehnsucht nach Normalität“ (die in Deutschland eben nicht nur Fanmeile am Brandenburger Tor, sondern auch attackierte Flüchtlingsunterkünfte sei). Er entwirft die Idee einer „radikalen Vielfalt“, die statt Integration und Gedächtnistheater kritisiert und sich gesellschaftlich in einer „Mischcultur“ ausdrücke.

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Kommentare (7)

  • Mr. T.

    |

    Interessant! Da muss ich wohl reinlesen. Die bescheuerte Rede vom christlich-jüdischen Abendland hab ich auch nie nachvollziehen können.

    Ist die Schreibweise der Mischcultur so Absicht?

  • Giesinger

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    “Ist die Schreibweise der Mischcultur so Absicht?”

    Sonst wär’s ja keine Mischkultur. Die unsägliche Rechtschreibreform war wohl erst der Anfang. Die Franzosen ließen sowas wohl nicht mit sich machen. Nachdem Jahrzehntelang Geld für Integrationsbemühungen zum Fenster rausgeworfen wurde, kommt nun ein Schriftsteller und propagiert “Desintegration”?
    Ich vermute, der Mann will einfach nur Geld mit seinem Buch verdienen. Das darf er natürlich, aber ich muß es auch nicht lesen.

  • Giesinger

    |

    Zum Christlich jüdischen Abendland: Mit der Judenvernichtung wurde auch ein großer Teil unseres kulturellen Erbes vernichtet. Ich denke da an Musiker, mit den sonstigen Künsten kenne ich mich nicht so aus.
    Aber selbst im Sprachgebrauch haben zumindest bei mir einige jüdische Wörter und Begriffe überlebt.
    Es ist tatsächlich Teil unserer Kultur. Die Nazis haben es nicht komplett geschafft, diese Kultur auszulöschen.

  • Martin Oswald

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    Ja, die Schreibweise ist beabsichtigt. Sie wird in Czolleks Buch als Reaktion auf Heinrich von Treitschkes Forderung nach Assimilation in Deutschland lebender Juden im Zuge des sog. Berliner Antisemitismusstreits um 1880 verwendet. Von Treitschke: „Sie sollen Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen – unbeschadet ihres Glaubens und ihrer alten heiligen Erinnerungen, die uns allen ehrwürdig sind; denn wir wollen nicht, daß auf die Jahrtausende germanischer Gesittung ein Zeitalter deutsch-jüdischer Mischcultur folge.“

  • highwayfloh

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    Hmh,

    ich frage mich nach dem Lesen des Artikels, ob Czollek zur weiteren Radikalisierung und Spaltung der Gesellschaft mit seinen getätigten Aussagen beiträgt und nur weiter Öl ins Feuer giesst, anstatt dazu beizutragen, dass die Menschlichkeit und Völkerverbundenheit im Vordergrund steht, damit sich die Gesellschaft insgesamt global positiv entwickelt.

  • Julian86

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    Mit Czolleks hier wiedergegebenem Verständnis von “(Des)Integration” habe ich Verständnisprobleme, auch wenn ich seine Absicht, seinen Appell nicht verkenne.

    Für mich bleibt das Wort ´Integration` positiv konotiert: Es fordert beide Seiten auf und heraus; es fordert zum Gelingen von beiden einen Lernprozess, der im Ideaofall Neues wachsen lässt, ganz win-win.

    Das setzt gegenseitigen gelebten Respekt voraus, nicht “nur” Toleranz, bei der doch Diverses mitschwingt: Paternalistisches, ein Von-oben-Herab.

    Fließend dazu dabei die Vorstellung, ja Forderung nach Assimilation, nach “Aufgehen” in der Dominanzkultur samt Verlust des Eigenen.

    Ich verlinke auf Juli Zehs aktuelle Rede (Seite 3)
    https://www.zeit.de/kultur/literatur/2019-11/politikverdruss-juli-zeh-heinrich-boell-demokratie-intellektuelle/seite-3,
    worin sie unsere Lage und Verantwortung für unser demokratisches Ganze verständlich analysiert und uns (Seite 4) vor der “Stufe 4” warnt.

  • Pfefferminza

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    Naja, das die drei Exemplare von Czolleks Buch wie Blei bei Dombrowsky in den Regalen lagen, hat schon seinen Grund.
    Niemand gibt gerne Geld aus für so einen Schwachsinn, es sei denn, die Schrift steht bei den anderen Bänden der Kategorie “Witze, Komik und Satire” :

    – man schlägt einen Bogen vom Nationalsozialismus zur Fußball-WM

    – meint, Integration sei nicht nötig

    – die “Mischcultur” würde es schon richten.

    Ja, ja, wo haben denn Muslime ihren Platz im “Christlich-Jüdischen Abendland”?
    Dieser Platz ist ihnen bereits fest zugewiesen. Keine Sorge, man auf antisemitischen Pro-Hamas-Demos betreibt man schon Desintegration.

    Statt dem albernen Begriff “Mischcultur” -von dem der Autor wohl hofft, sich als Begriffsbildner ein Denkmal setzen zu können – wird landläufig einfach von Parallelgesellschaften gesprochen.

    Fazit:
    Wieder nichts Neues unter der Sonne, gratismutiges Deutschlandbashing, Verharmlosung drängender Probleme mit Migration und Religion, billigste Begriffsdrechselei und ein blauäugiges wenn nicht kalkuliertes Widerkäuen längst versuchter und gescheiterter Lösungsversuche.
    Hier will sich jemand aus Marketinggründen profilieren. Es ist nichts weiter dahinter, es sei denn, es ist als ein weiterer typisch deutscher, seichter Sartire gedacht.

    Arm, echt arm

Kommentare sind deaktiviert

drin