Entdecke Veranstaltungen in Regensburg Alle Kultur Oekologie Soziales Kino
Aktionstag Inklusion

Behinderung bedeutet Expertise

Am 5. Mai war der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung für Oberpfalz und Niederbayern lud aus diesem Anlass zur Filmpremiere.

Die Veranstaltung wurde von einer Gebärdendolmetscherin übersetzt. Der Film ist zudem mit einem Untertitel versehen. Quelle: Screenshot

„Ich möchte keine Sonderangebote mehr und keine ausschließenden Strukturen.“ Das wünscht sich die Regensburger Grünen-Stadträtin Wiebke Richter für die Zukunft. „Regensburgs erste Rolli-Städträtin“ ist am Mittwoch zusammen mit Linda Pilz, Behindertenbeauftragte im Landkreis Landshut, und dem Regensburger Psychologen Klaus Nuißl Podiumsgast bei der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB®).

WERBUNG

Seit 24 Jahren gilt der 5. Mai als Protesttag für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Er geht zurück auf eine Initiative des Vereins Selbstbestimmt Leben von 1992. Mittlerweile werden die bundesweiten Aktionen maßgeblich von der Aktion Mensch organisiert und von zahlreichen Verbänden und Beratungsstellen unterstützt. So auch von der EUTB®. Dieses Jahr lud die EUTB für die Bezirke Niederbayern und Oberpfalz zusammen mit den drei Diskussionsgästen zu einer Online-Filmpremiere ein. Die grundlegende Frage dabei: Wo steht die Gesellschaft aktuell beim Thema Inklusion und Teilhabe?

„Die Barrieren sind in den Köpfen“

Die Beratungsstelle selbst wird seit Anfang 2018 auf Grund der damals in Kraft getretenen zweiten von vier Stufen des Bundesteilhabegesetzes vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert und soll Betroffene „auf Augenhöhe“ unterstützen. Erklärtes Ziel dabei ist es, dafür zu sorgen, dass Ratsuchende ihre Entscheidungen möglichst selbstbestimmt treffen können, wie auch Peter Weiß von der Lebenshilfe Landshut am Mittwoch erklärt.

Dazu setze der Verein vor allem auf sogenannte Peer-Berater, also Menschen die selbst eine Behinderung haben. Deren Erfahrungen aus der Praxis und die bestehenden Probleme für Menschen mit Behinderungen greift ein nun von der EUTB Niederbayern/Oberpfalz produzierter Kurzfilm auf. In kleinen, aneinandergereihten Statements kommen Mitarbeiter verschiedener Beratungsstellen wie vom Regensburger Verein Aktives Leben für Menschen mit Behinderung (alb) zu Wort. Deren Einschätzungen zur Inklusion sind dabei recht eindeutig.

Matthias Krieger ärgerte sich vergangenen Juni über installierte Blockaden des Behindertenparkplatzes am Domplatz. Hier unser Bericht. Foto: Facebookseite von Matthias Krieger

So seien physische Barrieren wie Treppen, Bodenschwellen oder andere Blockaden eher Ausdruck eines viel grundlegenderen  Problems: „Die Barrieren in den Köpfen“, unübersichtliche Bürokratie und „fehlendes Zutrauen“ der Gesellschaft. Im Alltag der Leistungsgesellschaft hätten Menschen mit Behinderung große Probleme, zurecht zu kommen, erklärt eine Frau in dem Film. Die Schuld dafür sieht sie gerade bei diesem Leistungsgedanken. „Wer nicht das leistet, was allgemein erwartet wird, gilt gleich als Low-Performer.“ Hier brauche es „mehr Empathie und mehr Mithilfe“ sowie mehr Vertrauen darauf, dass Menschen mit Behinderungen selbständig leben und ebenfalls ihren Teil zur Gesellschaft beitragen können, heißt es mehrfach. (Ein Gespräch mit dem Regensburger Inklusionsbeauftragten zum Thema Inklusion unter Pandemiebedingungen findet sich hier)

Menschen mit Handicaps als gleichberechtigt wahrnehmen

Viele der Menschen in dem Video haben selbst eine körperliche oder geistige Behinderung und wissen somit auch aus persönlichen Erfahrungen um die Lage Betroffener. „Mal schwächeln, mal langsamer sein, mal nicht gut drauf sein“, das sollte eigentlich zugestanden werden, sagt ein Mannes. Auch er ist in einer Beratungsstelle tätig und dort werde er „endlich voll ernst genommen“. Das habe er „vorher noch nie so erlebt.“

Damit sich das ändere, müsse bereits im Kindesalter angesetzt werden, lautet eine weitere Stimme. Inklusiven Bildungsangeboten und einem gemeinsamen Schulunterricht kommt seit einigen Jahren immer mehr Beachtung zu. Hier sieht auch Wiebke Richter, die neben ihrer Tätigkeit als Stadträtin hauptberuflich für die Regensburger Beratungsstelle PHOENIX e.V. arbeitet, einen wesentlichen Schlüssel zur Inklusion. „Wenn die Menschen von klein auf erleben, dass keiner ausgeschlossen wird, dann können wir wirklich etwas bewirken.“ Denn Inklusion müsse von beiden Seiten gelernt werden, sagt Richter in einer von drei kurzen Diskussionsrunden zwischen den Filmparts.

Fast 15 Prozent in Deutschland haben eine Behinderung

Von der Gesellschaft optimal mitgenommen werden, egal mit welchen Anforderungen, das ist die zentrale Forderung, des Kurzfilms, der ab dem 10. Mai auf dem Youtube-Kanal der EUTB zu finden ist. Das könne aber nur erreicht werden, wenn es künftig eben keine Sonderangebote, keine ausgegliederten Schulklassen oder fehlendes Vertrauen in die Betroffenen gäbe.

„Eine Behinderung stellt eine zusätzliche Qualifikation dar“, ist Richter überzeugt. Gerade bei der Arbeit mit Behinderten oder bei Themen der Inklusion müsse das vielmehr als Chance verstanden werden. Auch deshalb habe sie 2014 entschieden, in der Politik aktiv zu werden. Fast 15 Prozent der Menschen in Deutschland hätten schließlich eine Behinderung. „Wir als die Experten müssen in der Politik endlich präsenter werden.“

Frank Reinel (rechts im Bild) ist seit 2017 Inklusionsbeauftragter der Stadt Regensburg. Auch er sieht die Schule als einen wichtigen Faktor für das Thema Teilhabe. Foto: Archiv/bm

Präsenter muss laut Klaus Nuißl auch das Thema psychische Behinderung werden. Er ist als Diplom-Psychologe am Bezirksklinikum Regensburg tätig und fungiert als sogenannter EX-IN Genesungsbegleiter beim Bezirk Oberpfalz. In seiner Arbeit erlebe er immer wieder, mit welchen Herausforderungen Menschen mit psychischer Behinderung konfrontiert seien. Nicht selten würden sie auf Grund ihrer Krisenerfahrung eine Jobabsage erhalten oder auch einfach keine Wohnung bekommen. „Niemand will jemandem mit Schizophrenie oder einer Borderline-Persönlichkeitsstörung“, nennt er das Grundproblem.

Zwischen Ausgrenzung und Selbstigmatisierung

Auch im Alltag erleben diese Menschen laut Nuißl immer wieder Ausgrenzung und „sehen sich in einer Rechtfertigungslage gegenüber der Gesellschaft“. Das reiche von abfälligen Bemerkungen, warum man denn mittags zu Hause sei, anstatt in die Arbeit zu gehen, bis hin zu Vorwürfen, „man würde ja nur simulieren“. Nuißl erklärt: „Menschen die nicht arbeiten können, erleben das als sehr belastend.“ Und: Psychisch Erkrankte sehe man ihren Zustand oftmals nicht an. Diese „Unsichtbarkeit der psychischen Erkrankung“ sei ein Problem. Das permanente Rechtfertigen führe zudem zu einer „Selbststigmatisierung“. Menschen, die immer wieder ausgegrenzt werden machen sich laut Nuißl irgendwann selbst zum Problem. Das eigene Selbstwertgefühl leide und das stehe auch der Genesung im Weg.

Egal ob psychische Erkrankung, eine Behinderung durch einen Unfall oder von Geburt an. Die Probleme stellen sich laut den Experten in den Beratungsstellen ähnlich dar. Weil man den Betroffenen oft zu wenig zutraue oder nicht den Mut aufbringe, Menschen mit Behinderungen einen Arbeitsplatz zu geben, seien viele auf staatliche Leistungen angewiesen. Geringe Verdienstaussichten würden sich schließlich auf die kulturelle und soziale Teilhabe auswirken. Auch auf dem Wohnungsmarkt würden sich viele noch immer schwer tun. Barrierefreie Wohnungen – und auch Büroräume – werden seit einigen Jahren zwar verstärkt gefördert und gebaut, hält Richter fest, seien aber noch immer Mangelware. Sie fordert eine stärkere Überprüfung bei privaten Bauvorhaben, ob hier rechtliche Quoten und Vorgaben zur Barrierefreiheit wirklich eingehalten werden.

Im Netz der Behörden

Hinzu käme die Bürokratie. Hier gäbe es oftmals ein „Weiterschieben“ von Amt zu Amt. So schildert es in dem Film ein Mann. Er berichtet von einem Fall, bei dem er eine Person betreut habe, die in Folge eines Unfalls körperlich beeinträchtigt ist. Es werde oft versucht, „diese Leute in eine Erwerbsminderungsrente zu drängen“. Wieso stattdessen nicht versucht werde, diese Menschen wieder in Arbeit zu bringen, das könne er nicht verstehen. Zumal das eher die Regel, denn Einzelfälle seien. So würden Betroffene abgedrängt und zusätzlich stigmatisiert.

Hinzu kämen die nicht selten „ewig langen Bearbeitungszeiten“ und irgendwann das Gefühl, „im Netz der Behörden“ zu sein, so Nuißl. „In einem Fall hieß es, der Betroffene sei ja krank geschrieben. Deshalb erhielt er vom Arbeitsamt kein Arbeitslosengeld.“ Die Krankenkasse habe sich aber ebenfalls nicht zuständig gefühlt und ihn wieder zurückverwiesen. „Der Mann bekam Monate kein Geld und hatte zum Glück Eltern, die ihn unterstützten.“

Braucht es einen Inklusionsvorbehalt?

Laut Linda Pilz – sie arbeitet derzeit an einem Aktionsplan zur Inklusion im Landkreis Landshut – müsste „eigentlich nur das geltende Recht der UN-Behindertenkonvetion umgesetzt werden“. Das besage bereits, dass jeder Mensch selbst entscheiden könne, wo er leben, wohnen und arbeiten wolle. Das bedeute in letzter Konsequenz auch eine Absage an Sonderschulen, Sonderkindergärten oder besondere Arbeitsformen. Und Wiebke Richter fordert auf politischer Ebene „eine Art Inklusionsvorbehalt“. „Kein Geld mehr für Dinge, die nicht barrierefrei und inklusiv sind.“

Das sei ein hohes Ziel. „Aber ohne kommen wir nicht weiter“, ist die Regensburger Stadträtin überzeugt. Denn die Probleme seien nicht neu und nicht nur in den Beratungsstellen seit Jahren bekannt. Dennoch sei man auch gesellschaftlich „weit davon entfernt, Diversität als normal“ zu betrachten, so ein Beitrag im Film. Und so sei „noch viel zu tun, bis wir eine inklusive Gesellschaft haben“.

Print Friendly, PDF & Email

SUPPORT

Ist dir unabhängiger Journalismus etwas wert?

Dann unterstütze unsere Arbeit!
Einmalig oder mit einer regelmäßigen Spende!

Per PayPal:
Per Überweisung oder Dauerauftrag:

 

Verein zur Förderung der Meinungs- und Informationsvielfalt e.V.
IBAN: DE14 7509 0000 0000 0633 63
BIC: GENODEF1R01

Kommentare (14)

  • R.G.

    |

    Kommentar gelöscht. Bleiben Sie sachlich.

  • R.G.

    |

    Wenn die Bürgermeister und Beamten der Stadt plötzlich dauerhaft gehindert würden, zu ihren Arbeitsplätzen zu kommen und in ihrem gewünschten Geschäft einzukaufen, würden sie sich dann besorgt, ernst, zornig oder kichernd zu einem Artikel über das Problem, fotografieren lassen?

    Wie soll man dran glauben, dass man sich endlich seitens der Politik dem Thema stellt, wie schäbig man behinderte Menschen noch immer, mehr als siebzig, bald achtzig Jahre nach Ende des Dritten Reiches aus vielen Lebensvollzügen ausschließt, wenn nicht mal die Ernsthaftigkeit aufgebracht wird, ein normales Arbeitsgesicht zu einem brutal ernsten Thema zu zeigen?

    Herr Bothner, wahrscheinlich moderieren sie den Artikel, Sie wirken jung und gesund, der luebe Gott hat sie äußerlich sehr beschenkt. Sie können nicht wissen, wie häufig “Gesunde” den “Behinderten” ein Kichernd-dümmliches Gesicht zuwenden und dabei die Ohren für die Anliegen der Betroffenen fest verschließen.

  • xy

    |

    Oben steht: “Sie können nicht wissen, wie häufig “Gesunde” den “Behinderten” ein Kichernddümmliches Gesicht zuwenden und dabei die Ohren für die Anliegen der Betroffenen fest verschließen.”

    Sie können aber auch nicht wissen, wie oft Behinderte die Normalos mit ihren Rollstuhlflitzern ins Knie oder über den Haufen fahren und sich beim Einkaufen wegen ihrer eingebauten Vorfahrt in der Schlange an der Kasse oder sonstwo vordrängen. Dieses Weg-da-jetzt-komm-ich-Verhalten sieht man inzwischen schon mit Rollatoren. Gleichberechtigung geht eben immer in zwei Richtungen und bedeutet nicht ubiquitäre “eingebaute Vorfahrt”…

  • Piedro

    |

    “Wieso stattdessen nicht versucht werde, diese Menschen wieder in Arbeit zu bringen, das könne er nicht verstehen.”
    Das ist leicht zu verstehen. Ein erheblicher Teil der Gelder, die für Integrationsmaßnahmen vorgesehen sind, werden für andere Zwecke ausgegeben, etwa Verwaltung, Heizkosten, Gebäudemieten… Inzwischen ist das über 1 Milliarde. Der Bundesrechnungshof kritisiert das regelmäßig, ebenso wie die nutzlose Qualität der massenhaft eingekauften “Fördermaßnahmen” bei den billigsten Anbietern.

    “„In einem Fall hieß es, der Betroffene sei ja krank geschrieben. Deshalb erhielt er vom Arbeitsamt kein Arbeitslosengeld.“ Die Krankenkasse habe sich aber ebenfalls nicht zuständig gefühlt und ihn wieder zurückverwiesen. „Der Mann bekam Monate kein Geld und hatte zum Glück Eltern, die ihn unterstützten.“”
    Es gibt kein Arbeitsamt mehr. Zuständig für die Grundsicherung wäre hier, unabhängig von einem eventuellen Anspruch auf Alg1, das Jobcenter, dass die Grundsicherung gewähren muss, wenn kein anderer Leistungsträger zahlt. Müsste. Man hätte sich an das Sozialgericht wenden müssen.

    “…müsste „eigentlich nur das geltende Recht der UN-Behindertenkonvetion umgesetzt werden“.”
    Deutschland wird mindestens seit 2015 alljährlich von der UN gerügt, weil es die Konvention nicht umsetzt. Interessiert doch nicht, so wenig wie alle anderen Rügen der UN oder der EU. Eine Frau Merkel schon gar nicht, die hat auch kein Problem damit wahrheitswidrige Reden zu diesen Themen zu schwingen. #she did it again

    Das könnte sich mit der nächsten Bundestagswahl tatsächlich mal ändern. Bis dahin haben wir exkludierende Gesellschaft, und das gilt nicht nur für “Behinderte”.

  • Sir Sonderling

    |

    > Sie können aber auch nicht wissen, wie oft Behinderte die Normalos mit ihren
    > Rollstuhlflitzern ins Knie oder über den Haufen fahren und sich beim Einkaufen
    > wegen ihrer eingebauten Vorfahrt in der Schlange an der Kasse oder
    > sonstwo vordrängen.

    Mit Verlaub – was für ein Blödsinn! Diese Problematik ist definitiv nicht existent bzw. auch nur ansatzweise relevant.
    Vermutlich gehören Sie zu der bizarren Gattung Mensch, die zwei Minuten nachdem ein Rollstuhl an ihnen in sicherem Abstand vorbeigefahren ist, sich dank ihrer langen Leitung ob der gesehenen “Besonderheit” ganz furchtbar erschrecken und sich nachträglich bedroht oder gar angefahren fühlen. Und dann ihrerseits Befremden hervorrufen, weil sie einem unsichtbaren weil längst um die Ecke gebogenen “Rolli-Rowdy” mit dem Heigelstecken drohend hinterher blöken.

    Ach, das war jetzt nicht sachlich. Aber was soll man auf so einen Stuss auch sonst schreiben?

    Servus,
    Sir

  • R.G.

    |

    “Sie können aber auch nicht wissen, wie oft Behinderte die Normalos mit ihren Rollstuhlflitzern ins Knie oder über den Haufen fahren”

    Ich täte soo gerne Ihre Figur zeichnen!
    Denn die am weitesten vorstehenden Teilen des Rollstuhl sind die Fußstützen oder die Vorderräder. Sie befinden sich u n t e n .
    Die Durchschnittsmenschen haben ihre Knie etwas weiter über dem Boden, ich würde Daumen mal pi sagen, in der Mitte der Haxen.

    Außer, man vergisst, sich nach dem Morgenyoga wieder auszuknoten.

  • Hthik

    |

    “eigentlich nur das geltende Recht der UN-Behindertenkonvetion umgesetzt werden”

    Dafür sind die Behörden und Gerichte zuständig und das, wenn tatsächlich mal einer den Mut und die Ausdauer zur Klage aufbringt, dann etwa so aus.

    “Über das nationale Fachrecht hinausgehende Leistungsansprüche können daraus nur abgeleitet werden, soweit sich unmittelbar aus der völkerrechtlichen Norm ein subjektives Recht des Einzelnen auf eine bestimmte Leistung ergibt (vgl. BSG; Urteil vom 6. März 2012, B 1 KR 10/11 R, juris Rdnr.24).” https://openjur.de/u/626553.html

    Das ist dann leider alles viel zu unbestimmt.

    Die angegebene BSG-Rechtsprechung ist auch lesenswert. Das ist hohe Kunst des Rumeierns und der hierdurch und durch Langatmigkeit schwer erkennbaren Fehlschlüsse. Etwa

    “Das Benachteiligungsverbot des Art 3 Abs 3 S 2 GG erschöpft sich nicht in der Anordnung, behinderte und nichtbehinderte Menschen rechtlich gleich zu behandeln. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt gegeben sein, wenn dieser nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Fördermaßnahme kompensiert wird

    Der gesetzliche Leistungsausschluss nach § 34 Abs 1 S 7 bis 9 SGB V verstößt indes weder gegen das verfassungsrechtliche Benachteiligungs- noch gegen das konventionsrechtliche Diskriminierungsverbot. Der gesetzliche Leistungsausschluss knüpft nicht an eine Behinderung im verfassungsrechtlichen (vgl die allgemein auf die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben abstellende Regelung des § 2 Abs 1 S 1 SGB IX, an dessen Vorgängernorm – § 3 Abs 1 Schwerbehindertengesetz – sich der verfassungsändernde Gesetzgeber bei der Schaffung des Art 3 Abs 3 S 2 GG orientiert hat, s BVerfGE 96, 288, 301) und konventionsrechtlichen Sinne an, sondern erfasst weitergehend alle Fälle der Erkrankung (§ 27 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB V) oder – hier nicht betroffen – der Schwächung der Gesundheit, die in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer Krankheit führen würde (§ 23 Abs 1 Nr 1, Abs 3 SGB V). Die Ausschlussregelung setzt nicht den Eintritt einer Behinderung voraus, sondern lässt auch eine vorübergehende Krankheit oder Erscheinungsformen in deren Vorfeld ausreichen.”

    Ich hoffe, jeder hat es verstanden. Ich verstehe es so: Die Pflicht, die Behinderung auszugleichen, indem der Leistungsausschluss nicht angewandt wird, gilt deswegen nicht, weil vom Leistungsausschluss auch Nichtbehinderte betroffen sein können.

    Um zu verdeutlichen, wo hier das Problem ist, nehmen wir mal an, der ÖPNV wäre bereits gesetzlich für alle kostenlos. Dann braucht man keine Regelung, dass er es auch für Behinderte ist. Nun wechselt die Regierung und man möchte sagen wir mal alle mit mehr als 2000 netto zur Finanzierung heranziehen. Dann werden die Behinderten die soviel verdienen auch herangezogen. Die die Regel nicht auf die Behinderung abstellt, ist kein Nachteilsausgleich erforderlich. Dass der Rollifahrer es schwerer hat, seine Wege übers Kopfsteinpflaster zurückzulegen und deswegen lieber Bus fährt, ist plötzlich unwichtig.

    Genauso kann man zeigen, dass der Nachteilsausgleich nie irgendwo erforderlich ist, es sei denn, es gibt ein wirklich explizit behindertendiskriminierendes Gesetz. Das wäre aber schon verfassungswidrig. Zusammengefasst ist das Recht auf Nachteilsausgleich nie von Nutzen außer ein Gericht entscheidet in freier Willkür, das es doch anders ist.

    Wer es jetzt noch nicht verstanden hat und nicht mit dem Deutschen Sozialrechtszwiedenk vertraut ist, sollte es vielleicht lieber lassen, damit ihm nicht selbst eine geistig-seelische Behinderung droht: “Und glauben Sie, glauben Sie mir: wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verlieret, der hat keinen zu verlieren.”

    https://de.wikisource.org/wiki/Emilia_Galotti

  • Hthik

    |

    @Piedro 7. Mai 2021 um 12:50
    “Man hätte sich an das Sozialgericht wenden müssen.”

    Im Grundsatz ja, aber 1. kann die EA auch leicht einen Monat dauern und wird dann womöglich abgelehnt, weil gezahlt wurde oder – auch beliebt – der Träger zugesagt hat, zu zahlen. Ich stimme ja grundsätzlich zu, kann aber auch den früher hier aktiven Sozialrechtsanwalt verstehen, der eher darauf gebaut hat, die Träger anzurufen und zu pampern, indem er etwa schon längst eingereichte Unterlagen nochmal hinbrachte etc.

    2. Wenn die Familie bereit ist zu helfen ja offenbar kein Anordnungsgrund und, etwa bei Grundsicherung, womöglich auch kein Anordnungsanspruch besteht.

  • Stefan Aigner

    |

    @Hthik
    @Piedro

    Können Sie bitte hier eine erneute epische Diskussion über Ihre unterschiedlichen Rechtsauffassungen sein lassen. Danke.

  • Piedro

    |

    @Stefan Aigner
    Warum sollte die unterschiedlich sein? Stimmt doch fast alles. ;) Es gibt es bei Eilverfahren tatsächlich unterschiedliche Urteile, manche SG meinen im ersten Schritt, familiäre Hilfe negiere die Notlage, und so den Anordnungsgrund. Dem lässt sich durch Beschwerde abhelfen.

    “Dafür sind die Behörden und Gerichte zuständig…”
    Nein, die Rügen nehmen die Bundesregierung in die Pflicht. Sie muss/müsste Behörden und Bundesländer auf Kurs bringen. Immerhin hat sich seit 2015 einiges getan, was auch anerkannt wird. Aber grundsätzlichen Pflichten mag man dann wohl doch nicht wirklich nachkommen.
    https://www.bpb.de/apuz/284888/eine-dekade-un-behindertenrechtskonvention-in-deutschland?p=3
    “Das von der Politik selbst organisierte Scheitern einer “Inklusion” ist weder das, was mit der UN-BRK beabsichtigt war, noch wird man der menschenrechtlichen Verantwortung gerecht – und Wahlen sind damit auch nicht zu gewinnen.”

  • Piedro

    |

    Nachtrag zur Quelle von oben:
    “Als bedrohliche Entwicklung für die Umsetzung der UN-BRK in Deutschland erweist sich derzeit der immer aggressiver in Erscheinung tretende politische Populismus, der von einem Aufleben des Exklusionsparadigmas begleitet wird. Statt zurückzuweichen, wäre gerade das entschlossene Eintreten für Inklusion und deren gesellschaftspolitische Dimension wichtig – insbesondere wenn deutlich wird, dass die Exklusion mit dem Aufleben der Wertvorstellung einhergeht, dass Menschen mit Behinderungen eine Belastung für die Gesellschaft seien. So wie Demokratie Inklusion braucht, kann auch der gesellschaftliche Zusammenhalt ohne Inklusion nicht erreicht werden.”
    Der politische Populismus ist wohl auch der Grund, warum sich Bayern zwar in Sachen Barrierefreiheit hervor tut, aber auf Platz 12 im Ländervergleich der Exklusion im Schulsystem ist. Hier hat man sich, nach anfänglichen Erfolgen, auch rhetorisch, der AfD angeglichen.

  • Hthik

    |

    @Stefan Aigner 7. Mai 2021 um 14:50

    “Danke.”

    Gern geschehn. Ein klein wenig Meta darf ich mir abschließend – großes Indianerehrenwort – zu diesem Subthema vielleicht erlauben.

    Wenn es um konkrete Fälle geht, halt ich es manchmal schon für wichtig, dass der Betroffene, der das ja vermutlich liest, möglichst umfangreich über verschiedene Sichtweisen informiert wird. Hier, wos um nix geht. Vor Gericht könnte es zu spät sein. Der Teilnehmer Piedro hat mich auch schonmal davon überzeugt, dass ich falsch lag. Das schadet meiner Eitelkeit, hilft aber praktisch.

  • Piedro

    |

    @Hthik
    Von Ihnen durfte ich auch schon lernen. So funktioniert das halt. Sozialrecht ist kein leichtes Thema mehr. Und selbst wo es glasklar ist, heißt das noch lange nicht, dass es einfach ist Recht zu bekommen.

  • Nesrin

    |

    Wie kann es sein, dass eine Person, die zu einer Beratungsstelle für psychisch kranke Menschen geht, wegen einer simplen Zuständigkeitsstreiterei monatelang ohne Einkommen da steht? Für diese Fälle hat der Gesetzgeber den §43 SGB I erfunden: Bei Streitigkeiten zahlt auf Antrag der zuerst angegangene Kostenträger. Werden die Behörden weiterhin nicht tätig kann die betroffene Person einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht beantragen. Die Rechtspfleger dort sind meistens sehr freundlich und helfen weiter. Eine Beratungsstelle in diesem Bereich muss so etwas wissen! Dieses ewige Appeasement mit den hiesigen Behörden von Seiten der Sozialen Arbeit in dieser Stadt hat dazu geführt, dass die Leute teilweise wirklich schlecht behandelt werden – wie in diesem geschilderten Fall. In anderen Kommunen läuft das wesentlich humaner ab.

Kommentare sind deaktiviert

drin